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Was Frauen alles erleben dürfen

„Brut“ — ein Schauspiel von Matthias Zschokke  ■ Lore Kleinert

Vielleicht hätte die Entdeckung tatsächlich Spaß gemacht, daß der „dramaturgische Aufbau von Brut exakt das Duisburger Manifest (Studentenbewegung Februar 1969) paraphrasiert, besonders den darin analysierten „hierarchischen Mechanismus“; dieser Hoffnung, die Matthias Zschokke in seiner Arbeitsnotiz zur Programmheftgestaltung formuliert, stellt er den frommen Wunsch zur Seite, das Vergnügen beim Lesen seines Romans Piraten werde sich bestimmt auch beim Erleben seines Theaterstückes einstellen. So abwegig wie die Hoffnung, die das Vergnügen ohnehin im illustren Zirkel von Spezialisten vermutet, so unerfüllt, das vorweg, blieb der Wunsch, und das, obwohl Schauspieler und Stückvorlage allerhand aufboten. Zuallererst: ein Piratenschiff. Zwar hängt es anfangs in einer Flaute fest, wird zum Landeplatz von Pleitegeiern und segelt später überwiegend im Kreis, doch schon Plutarch wußte offenbar, daß zu Schiff zu fahren notwendiger ist, als zu leben, und der Autor Zschokke meint das auch. Seine Besatzung hat er geschickt und mit Aussicht auf Konflikte aller Art angemustert: Tristana Nunez, Traum aller Möchtegern-Piratinnen mit üppiger Mähne und Ledermantel befehligt eine Mann-Schaft und hält sich einen Dichter im Käfig. Je mehr sie der Liebe verfällt, um so mehr verläßt sie die Lust am Entern und Beutemachen, bis sie sich der latent schwelenden Meuterei preisgibt und sich im freigewordenen Käfig des Dichters einschließen läßt. Objekt nicht nur ihrer Begierde ist Matrose Selkirk, eine als cooler Macho getarnte Frau, die den Kampf will, weil sie glaubt, nur dann etwas zu fühlen.

Doch Autor Zschokke hat sich nicht nur Gedanken um die Erlebnisfähigkeit und Tarnungsbereitschaft von Frauen gemacht. Auch die Männer auf dem Piratenschiff suchen anderes als bloße Beute. Navigator Glaser etwa mutiert vom verkrampften Alles-Berechner zum tantenhaften Umsorger von Sascha Selkirk, und nur Dieter Laser ist es zu danken, daß dieser Prozeß fortschreitender Aufweichung bis hin zum Liebesgeständnis nicht zur Peinlichkeit wurde, sondern zu einem der vielen anrührenden Beispiele schauspielerischen Könnens in dieser Produktion. Das gilt auch dann, wenn Andrea Bürgin als Sascha Selkirk am Ende zur „weiblichen“ Hingabe und — natürlich — zum Tode findet, nachdem die Begegnung mit der als Rokokopüppchen herausgeputzten Fürstin Lastadie Etmal die zickig- zackige Mannfrau ganz offensichtlich entwaffnete. Auch diese eloquente Dame, erfahren wir, durchkreuzt schon seit Menschengedenken die Weltmeere. Warum sie dies ausgerechnet jetzt beenden muß, als Leiche, bleibt eines der Geheimnisse der daran sonst nicht reichen Inszenierung, doch immerhin gehört ihr Auftritt — sie fliegt an Deck — zu den vergnüglichsten Passagen dieser Seereise. In der Begegnung der Besatzung mit ihrer überzogenen, kunstvoll inszenierten Weiblichkeit sprühen alle Behinderungen und Projektionen Funken: besonders schön der ebenso intrigante wie feige Offizier Hallwachs (Peter Brombacher), den die Kapitänin „Zwerglein“ nennt. Er sorgt für die Einhaltung von Regeln, weil er ohne sie, ohne die Ordnung aller nichts wäre. Daß der Steuermann Azor blind ist und sein Gehilfe Kogge langsam denkt, daß das kleine Bordorchester die Stimmung auch nicht mehr hebt, ist stetiger Anlaß für Irritationen und Stänkereien, doch das Machtgefüge auf dem Schiff bleibt, trotz aller mann-weiblichen Vexierspiele, letztlich intakt.

Das war voraussehbar, und das Programmheft teilt zum Trost mit, Brut handele von Abhängigkeiten, Sehnsüchten, Macht, Liebe etc. Doch allein die Tatsache, daß darüber geredet wird und daß glänzende Schauspieler das tun, vertreibt nicht die bleierne Schwere, die Papier haben kann. Regisseur Zschokke läßt seine eigenen Sätze viel zu selbstverliebt zelebrieren, als daß sein Stück Tempo gewinnen könnte. Er läßt ein Schiffsdeck auf die Bühne bauen und nutzt es nicht, obwohl verschiedene Ebenen, Planken und Taue geradezu dazu einladen. Er konstruiert Konflikte, die ihren Reiz aus Verweisen auf etwas anderes beziehen, seine Sicht der Welt möglicherweise oder seine literarischen und historischen Kenntnisse, und man wünscht sich schließlich, in Ruhe den Roman Piraten zu lesen und nicht Zeuge des Bemühens sein zu müssen, wie ein Autor als Regisseur die Geschöpfe seiner Phantasie fortwährend lähmt und das auch noch gegen die SchauspielerInnen. So bleibt am Ende — etwas ratlos — der Schluß, daß es Ärger gibt, wenn mehr als eine Frau an Bord ist. Seemannsbraut ist eben nur die See, das mußte schon Freddy Quinn einsehen, oder war es der hundertjährige Albers? Aber vielleicht würde das Duisburger Manifest vom Februar 1969 ja alles aufklären. Wer sich Brut anschaut, sollte es deshalb dringend mit sich führen.

Matthias Zschokke: Brut. Regie: Matthias Zschokke. Bühne: Maren Christensen. Mit Monica Bleibtreu, Peter Brombacher, Andrea Bürgin, Dieter Laser, Dietmar Mues, Ingrid Kaiser, Martin Pawlowsky. Eine Koproduktion des Schauspielhaus Hamburg mit dem Hebbel-Theater Berlin. Bis 5.10. in Hamburg, Kampnagelfabrik. 8.-10. und 12.-14.10. in Berlin, Hebbel-Theater.

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