: Leipzig auf dem Weg nach München
Von der „Heldenstadt“ des Herbstes 1989 will kaum noch jemand etwas wissen. Gefragt sind jetzt High-Tech und das Image einer Dienstleistungsmetropole. ■ VON NANA BRINK
Ja, wo denken Sie denn hin? Sie werden diese Stadt in zehn, nein in fünf, vielleicht auch schon nächstes Jahr nicht wiedererkennen. Sehen Sie, diese hunderttausend, die an den Montagen damals um den Ring marschiert sind, das waren ja gar keine richtigen Revolutionäre, keine politischen, meine ich. Sie wollten endlich selber machen. Das ist Leipzig. Überhaupt werden die Sachsen das alles viel schneller in den Griff kriegen. Waren wir nicht überhaupt die Handelsmetropole? Auch in den letzten vierzig Jahren? — Hellmut Rohrwasser, Steinmetzmeister, feiert seinen siebzigsten Geburtstag mit einigen Kollegen und mehreren Gläschen Sekt. Sein Optimismus ist ungebrochen. Prost: vierzig Jahre Zwangswirtschaft weggefegt.
Oder eher ausgeblendet. Noch vor ein paar Tagen war er nur am Fluchen, beim Spaziergang vom Völkerschlachtdenkmal, dessen Betonköpfe er seit Jahrzehnten restauriert, bis zu den einst großbürgerlichen und heute abrißreifen Villen im Stadtteil Gohlis. Das „rote Gesocks“ habe wirklich alles runtergewirtschaftet, jeder Groschen sei nach Berlin geflossen, und hier in seinem Haus seien ihm, im wahrsten Sinne des Wortes, die Dachziegel auf den Kopf gefallen.
Das Haus im Einheitsstaubgrau hat in den vergangenen Jahrzehnten seinen Stuck zur Straßenseite hin verloren. Im Hinterhof liegt ein angemoderter Haufen Dachziegel, neben den Aschentonnen ein plastikverpackter Stoß neuer Dämmplatten. Hellmut Rohrwasser genehmigt sich noch ein Gläschen Sekt. „Wenn die Gerüste weg sind, dann wird das hier wie in München, dann sind wir auch so aufgeräumt. Ich erlebe das noch.“
Leipzig, ein Jahr nach der Vereinigung, die nirgends lauter herbeigeschrien wurde als hier, auf den spätherbstlichen Demonstrationen, die zunehmend zu schwarz-rot-goldenen Abendspaziergängen gerieten. Und zwei Jahre nach dem Tag, der für Leipzig und die ganze DDR Schicksal spielte: Jenem 9. Oktober, an dem die Panzer vor der Stadt und die Vopos in den kleinen Gäßchen der Montagsdemonstration tatenlos zusahen und Honeckers Abgang besiegelt wurde. Das Husarenstück der Marschierer produzierte den Mythos der „Heldenstadt“.
Zwei Jahre später scheitert die Idee einiger unermüdlich Bürgerbewegter, zur Feier dieses Tages eine Ringbegehung auszurufen, an den vier Großbaustellen auf dem Ring. „Metastasen des Aufschwungs“ nennt sie ein Feierabend-Lyriker in der 'Leipziger Volkszeitung‘, und: „Heldenstadt, das war so ein Zufallstreffer der Geschichte. Jetzt ab, auf die Baustelle.“ Der einsame Nostalgie-Rufer hat noch ein paar Begleiter. Sie sitzen im Haus der Demokratie, das die Bürgerbewegung noch den SED-Oberen im Winter '89 abtrotzte, und brüten über den Anti- Einheits-Feierlichkeiten. Diskussionsrunden ohne Ende und eine Kundgebung sind im Angebot. Die Helden von einst sind nicht realitätsblind. „Es werden nicht viele kommen“, sagt eine Mitarbeiterin der Öko-Bibliothek, „die meisten wissen schon gar nicht mehr, was am 9. Oktober eigentlich hier los war“.
Leipzig feiert den Boom
Am 3.Oktober, dem neuen Tag der deutschen Einheit, werden die Leipziger auch kaum daran erinnert werden. Die 'Leipziger Volkszeitung‘, flugs vom Propagandastil des SED- Bezirksorgans zur Rathaus-Hofberichterstattung gewendet, wird über die Feierstunde im Neuen Rathaus berichten und die Erfolgsmeldungen des Wirtschaftsdezernenten verbreiten. „Leipzig boomt: 12.752 Gewerbeanmeldungen 1990. In diesem Jahr sind es schon über 7.000.“ Dann folgt der Bericht über das großartige Volksfest in der Innenstadt, mit Buden und Fröhlichkeit über Lafontaine zum Gyros. Kein Wort wird darüber zu lesen sein, daß der SPD- regierten Stadtverwaltung das Spektakel eher peinlich ist und unter Umgehung des Dienstweges von geschäftstüchtigen Beamten organisiert wurde.
„Leipzig ist tüchtig“, schreibt die Handwerkskammer ihren neuen Mitgliedern im Monatsrundbrief. Leipzig will das Paradebeispiel sein. Die 500.000-Einwohner-Stadt hat die relativ niedrigste Arbeitslosenzahl (knapp 32.765 in Stadt und Landkreis) und die meisten Gewerbeanmeldungen in Sachsen, aber auch die höchsten Gewerbemieten (zwischen 40 und 65 Mark pro Quadratmeter in City-Lage). Während der Mittelstand noch brach liegt, hebt sich Leipzig mit einigen Groß- Unternehmungen über den Neonreklamen- und Imbißbuden-Aufschwung hinaus: Quelle setzt für mehrere Millionen Mark ein Vertriebszentrum vor die Stadttore, knapp 10 Kilometer außerhalb entsteht ein Dienstleistungs- und Handels-Zentrum namens „Sachsenpark“. Und, so schwört der örtliche Chef der Deutschen Bank, die in Leipzig ihre Generalvertretung für die neuen Bundesländer eingerichtet hat, bald werde man vom Bankenplatz Leipzig an der Pleiße reden wie von Frankfurt am Main. Über fünfzig in- und ausländische Banken sind bereits vertreten.
Auf geheimnisvolle Weise, als bestätige sich das hartnäckige Gerücht, Deutschlands ältester Messeplatz setze ungeahnte Energien und Finanzquellen frei, versammeln sich die Aufschwungsidealisten in der Stadt. Viele kommen aus dem Westen, bilden die Schar der knapp 25.000 Zweitwohnsitzer und Funktelefonisten. Die Abenteuerkarrieristen, meist um die dreißig, trifft man zum Beispiel in der „Pfeffermühle“, von den Leipzigern mittlerweile „Besatzerkneipe“ geschimpft. Früher war die Weinstube des gleichnamigen DDR-Kabaretts einer der wenigen abendlichen Anlaufpunkte ohne Jugendclub-Charme. Heute weiß die einheimische Szene das Angebot an trockenem Weißwein nicht zu schätzen.
Die Einheit findet auf Geschäftsbasis statt. Einer der wenigen Wessis, der von den Leipzigern außerdem geliebt wird, ist Kurt Schoop — der Mann, der in den Augen vieler die Leipziger Messe gerettet hat. Nach wie vor ist die Messe das identitätsstiftende Symbol der Stadt, war sie doch zu DDR-Zeiten das Fenster zum Westen, brachten die vielen privat logierenden Messegäste einen Hauch von Weltstadt-Flair in die Ödnis. Dem umtriebigen 70jährigen Schoop, ehemals Chef der Düsseldorfer Messe, quillt die „Liebe zu der Lebendigkeit dieser Stadt“ aus allen Knopflöchern. „Ganz phantastisch“ findet er, wie hier „die Menschen die Ärmel hochkrempeln“, und er erinnert sich zu gern an die Nachkriegszeit, als er „ohne Hose überm Arsch“ angefangen habe.
Die Messe, weiß Kurt Schoop, ist der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Seine Vision erfordert Phantasie, stürzten doch mit der Währungsunion die gesamten Handelsbeziehungen mit den Ostblock-Staaten wie ein Kartenhaus zusammen. Vor einem Jahr schien es ein absurder Gedanke, das technisch veraltete Messegelände könne jemals mit Köln oder Hannover konkurrieren. Doch Schoop verschrieb eine Radikalkur: An die Stelle der Universalmessen sollen regionale Fachmessen den Anschluß an den Markt sichern. Statt der Sanierung des alten Geländes will Schoop ein „hypermodernes Messegelände“ auf einem ehemaligen Interflug-Grundstück bauen, das innerstädtische Areal soll gewinnbringend vermarktet werden.
Bislang geht seine Rechnung auf. Einige hundert Millionen Mark hat er in Bonn für den Messe-Neubau locker gemacht. SPD und CDU, in einer großen Koalition vereint, werden ihm wohl auf der Flucht nach vorne folgen.
Allein, wo bleiben die Visionen? Keine Spur. Reinhard Bohse, Pressesprecher der Stadt-Regierung und Mitglied des Neuen Forums, redet gerne von dem neuen Aktionismus, der ihn nicht mehr zum Nachdenken kommen läßt. Die Zeit der „sympathischen Weintrinkerrunden“ sei vorbei. Viele Mitglieder der Bürgerbewegung arbeiten im Rathaus. Daß Oberbürgermeister Lehmann- Grube (SPD), ehemals Stadtdirektor in Hannover, nicht nur die CDU in sein Kabinett aufnahm, sondern das Umweltdezernat an einen Bündnis- 90-Mann gab, findet Bohse positiv.
Neues Image statt Visionen
Statt an Visionen wird derweil am Image gebastelt. Mit Unterstützung aus dem Rathaus entwerfen einige Stadtplaner, Soziologen und Unternehmensberater Leipzigs neues Outfit. Ihr Verein nennt sich „Medienstadt 2000“. „Die moderne Dienstleistungsmetropole“ soll aus dem Dreieck zwischem sächsischem Kohlenpott und Bitterfelder Chemie- Industrie wie Phönix aus der Asche steigen. Auf den Bildschirmen der Planer werden Stadtteile zu einem Modell zusammengeschoben. „Medienstadt“ Leipzig? Da ist der Mitteldeutsche Rundfunk mit seiner Zentrale, da das aufblühende Graphik- und Druckgewerbe, dort entsteht, auf dem Gelände der alten Messe, eine hypermoderne „Telekommunikationswelt“ mit „intelligenten Büros“ und begrünten Dächern. Und hier, zwischen Völkerschlachtdenkmal und dem Uni-Riesen, der neue „Leipziger TV-Tower“ als Sympol der neuen Epoche. „Das klingt wie Pitiplatsch in Disneyland“, frotzelt ein Stadt-Kolumnist.
Auch Andreas H., 28jähriger Kripobeamter, grinst bei solchen Plänen. Jeden Abend, wenn er aus der Trutzburg des Polizeigebäudes, in der sich die Hinrichtungsstätte der DDR befand, in seine Zwei-Raum- Wabe nach Grünau fährt, kommt er am Asylbewerberheim vorbei. In den Straßen hinter dem Heim, das mitten in der Trabantenstadt liegt, hat er kürzlich einigen „Glatzen“ mehrere Zwillen, Baseballschläger, aber auch ein Luftdruckgewehr mit scharfer Munition abgenommen. Vor drei Wochen wurde das Haus, in dem über 400 Asylbewerber wohnen, zwei Tage lang von Einheiten des sächsischen SEK bewacht. Die Polizei hatte einen Tip bekommen: Das Haus sollte gestürmt werden. Kurz zuvor schon hatten rechtsradikale Jugendliche Brandsätze ins Erdgeschoß geworfen.
Hoyerswerda in Leipzig
Die Atmosphäre ist gespentisch: Gelangweilt hängen die in Kampfanzüge gesteckten Beamten auf einem Balkon im fünften Stock, während der Hausmeister alte NVA-Decken vor die zerborstenen Scheiben im ersten Stock hängt. Die Wach- und Schließgesellschaft kontrolliert den Einlaß am Bauzaun, den man mittlerweile um das Haus gezogen hat. Noch ist es ruhig in Grünau, auch nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda. Andreas H. sieht das Heim von seinem Küchenfenster aus. Das ehemalige Parteimitglied („Wir sind doch hier alle die Verlierer.“) wundert sich nicht über die zunehmende Gewaltbereitschaft. „Da stimmt doch nichts mehr, früher war ich angesehen und stolz auf meine Neubauwohnung. Jetzt soll ich mich ständig rechtfertigen, bloß weil ich an was geglaubt habe.“
Auch das ist die „Heldenstadt“ Leipzig, die von Hoyerswerda zwar nichts wissen will, deren Bewohner von Plattenbausiedlungen aber mindestens ebenso frustriert sind. Von Aufschwung ist doch keine Spur. Steinmetzmeister Rohrwasser lehrt das letzte Gläschen Sekt, auf die deutsche Einheit. Er ist trotz allem überzeugt: „Wir sind hier bald in München.“
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