: Herbst im Herzen
■ Die russische Pantomimengruppe »Die Geste« im BKA-Zelt
Ein übereifriger Fotograf betritt die völlig leere Bühne und will, was er sieht, auf Zelluloid zusammenpressen. Doch was er trifft, sind einzig Clowns, verrückte Phantasiegestalten, die springen, stürzen, schweben und mit einem wiederkehrenden Ritus durch die Gegend jagen: Alles wirbelt durcheinander, die Phantasie schlägt groteske Purzelbäume und entwischt gekonnt ins Unberechenbare. Dem Fofografen bleibt der plane Abzug dieser Wirklichkeit versagt.
Derart programmatisch beginnt der Reigen clownesker Episoden, mit denen die russische Pantomimengruppe »Die Geste« im BKA-Zelt neben der Philharmonie gastiert. Stilles Wasser — Haus der Teufel nennt die 13köpfige Truppe ihr stummes Spiel, das verteufelt gut gelingt. Komisch überhöhte Wirklichkeiten und tollkühn ausgelebte Wachträume prallen wild zusammen und machen abgründigen Effekt.
Da kriecht ein Arzt hinter seinem Messer her, das ihm in den Körper des aufgeschnittenen Patienten fiel und irrt nun durch die wahre Horrorlandschaft belebter Innereien, die ihn bekämpfen, zerfetzen und verdauen. Da zelebrieren zwei grazile Priesterinnen vergangener Zeiten elegische Tänze; ein tumber Bahnarbeiter platzt herein, läßt einen imaginären Zug passieren und wird zugleich in einer sadomasochistischen Peitschennummer zum ganz speziellen Comig- out gebracht: In einem ekstatischen Strip wandelt er sich zur nackten, wunderschönen Weiblichkeit.
Ob Kampfriten oder Liebesspiele — die Lust auf absurde Übertreibung kennt hier keine (Sprach-)Grenzen, torpediert das Zwerchfell und reibt manchen Geschmacksnerv auf. Mit Vorliebe wird im Kreis der Zuschauer das Chaos angestiftet: Wasser spritzt und Fetzen fliegen, ein fetter Hühnerbraten wird durchs Publikum geschmissen, Verfolgungsjagden gehen über Stuhl und Tisch. Und der »Verbrüderung« des ersten Finales kann sich kaum einer entziehen: Der Übermut platzt aus allen Bühnenrampennähten.
Der zweite Teil des Abends ist bedeutend ruhiger. »Nicht lustig« meint die knappe Geschichte dreier Clowns zu sein, die sich in die bittere Melancholie eines Buster Keaton hüllen. Der große Hunger quält: So muß die Flöte, auf der sich so schöne Melodien entlocken ließen, leider aufgegessen werden. Doch wären die drei nicht, was sie sind, würde die als Wurst verzehrte Flöte nicht im Magen weiterspielen. Alles, was sie anfassen, wird ihnen zur Musik, zur poetischen Entrückung — nur der Hunger bleibt banal und ungestillt. Da hilft auch nicht die vorbeigetragene Parole Lenins: »Lerne und lerne und lerne«, auch nicht das böse über Band eingespielte Dauerlachen eines amüsierten Publikums und auch nicht eine aufgeschreckte Horde nachttopfschwenkender Pioniermädchen.
Schließlich schlägt melancholischer Tiefgang in aggressive Lust: Der Sadismus blüht, und die Tortenschlacht beginnt; die Stummfilmwelt läßt grüßen.
Am Ende bleiben drei zerrupfte Lachgestalten; aber auch die Umwelt hat gelitten: Die Leninparole kommt nochmals vorbei und ist zerrissen, die sozialistische Pionierhorde hat sich quicken Joggern anverwandelt: Die Welt geht neue Wege, und die Clowns mit Herbst im Herzen treten ab. Jeder läßt noch ein Stückchen seiner selbst zurück, Perücke, Kragen, Hut, und verläßt den Ort trauriger Gefühle, die nur noch mit angestrengter Mühe dem Zuschauer zur belachbaren Komödie wurden.
Mit handfester Artistik und bizarren Ausfällen, mit viel Wehmut und ein bißchen Kitsch gelingt es der Truppe immer wieder, der rationalen Ordnung zu entwischen und die betäubte Phantasie des Publikums zu wecken. baal
Bis 20.10 außer mo., jeweils 20.30 Uhr im BKA-Zelt an der Philharmonie
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