: Neue Atomwaffen für Westeuropa möglich
IISS-Direktor Heisbourg: USA halten Option auf luftgestützte A-Bomben offen/ Pentagon will Abstandsrakete SRAM-T/ Weiter unklar, ob sowjetische Atomwaffen wirklich aus Ex-DDR abgezogen wurden/ Niemand hat bislang die Depots inspiziert ■ Aus London Andreas Zumach
Auch nach der Initiative von US-Präsident Bush zur Verringerung der Atomwaffenarsenale bleibt die Stationierung neuer Atomwaffen in Westeuropa auf der Tagesordnung. Diese Einschätzung vertrat der Direktor des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London, François Heisbourg anläßlich der Vorstellung des IISS-Jahrbuchs Militärische Balance 1991-92, das heute veröffentlicht wird. Gegenüber der taz äußerte sich Heisbourg auch skeptisch zu der Behauptung Moskaus, wonach sich auf dem Territorium der ehemaligen DDR keine sowjetischen Atomwaffen mehr befinden.
„Washington hält sich die Option zur Stationierung neuer flugzeuggestützter Atombomben und taktischer atomarer Abstandswaffen in Westeuropa offen“, erklärte Heisbourg. Bush hatte in seiner Rede vom vergangenen Freitag lediglich den Abzug der landgestützten atomaren Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen aus Westeuropa angekündigt und die Sowjetunion zu einem entsprechenden Schritt aufgefordert. Die — vor allem in der Bundesrepublik stationierten — etwa 1.400 atomaren Flugzeugbomben der Nato erwähnte Bush ebensowenig wie das entsprechende Arsenal der sowjetischen Luftwaffe. Nach bisherigen Nato-Planungen ist ab spätestens 1995 der Ersatz des westlichen Arsenals durch modernere Bomben sowie durch neue atomare Abstandsraketen mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern geplant. In den Planungen der Nato wird die neue Abstandsrakete unter der Bezeichnung „Tactical Air Stand-off Missile“ (TASM) geführt. Als Favorit für die TASM galt bislang die SRAM-T, die taktische Version der SRAM-2, einer vom Pentagon entwickelten Abstandsrakete für strategische Flugzeuge. Für beide Projekte bewilligte der US-Kongreß jedoch nicht die Mittel. Bush kündigte darauf am letzten Freitag die Einstellung des SRAM-2-Projektes an. Im Pentagon heißt es, damit werde auch die für Westeuropa vorgesehene taktische Version SRAM-T nicht weiterverfolgt.
Der Franzose Heisbourg, der vor seinem Dienstantritt als IISS-Direktor 1987 Erfahrungen in der Rüstungsindustrie seines Landes sammelte, schloß nicht aus, daß die Entwicklung einer Abstandsrakete TASM und ihres Sprengkopfes nun in anderen Waffenprogrammen des Pentagon betrieben wird — möglicherweise auch in einem geheimen, sogenannten „Black Box“-Programm. Heisbourg wies darauf hin, daß Frankreich und Großbritannien Abstandsraketen entwickeln, die als TASM für die Bewaffnung von Nato-Flugzeugen in Frage kommen.
Das gegenwärtige sowjetische Arsenal an atomaren Bomben schätzte Heisbourg auf „5.000 bis 8.000“. Genauere Angaben seien „nicht möglich, weil bisher noch niemand die Depots inspiziert hat, in denen diese Bomben lagern“. Aus demselben Grund sei auch „Skepsis angebracht“ gegenüber der Darstellung der Moskauer Führung, auf dem Territorium der ehemaligen DDR lagerten keine sowjetischen Atomsprengköpfe mehr.
Während die Bundesregierung mehrfach erklärt hat, sie vertraue entsprechenden sowjetischen Versicherungen, meldete die SPD immer wieder Zweifel an — zuletzt in der vergangenen Woche der Sicherheitspolitiker Gansel. Die Konfusion ist laut Heisbourg möglicherweise auf unterschiedliche Informationen der zentralen Armeeführung in Moskau und des Oberkommandos der — für die Ex-DDR zuständigen — westlichen Streitkräftegruppe zurückzuführen.
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