: Ohne Schnee geht es nicht
■ Zur Einstimmung auf die kalte Jahreszeit einige Überlegungen von Hermann Schlösser zu Winterstimmungen und wie man sie herstellt
Zur Einstimmung auf die kalte Jahreszeit
einige Überlegungen von HERMANN SCHLÖSSER
zu Winterstimmungen und wie man sie herstellt.
E
s wird Winter, die Tage werden kürzer.“ Das ist ein guter Anfang. Sachlich, unpathetisch, nüchtern. Wie aber kann es danach weitergehen? Etwas mehr Atmosphäre muß in den Text schon einfließen, sonst wird kein Stimmungsbild daraus, sondern ein Wetterbericht. Und das soll nicht sein. Also müssen Sätze produziert werden, die Wintergefühle transportieren. Aber ganz unangestrengt müssen sie daherkommen, als ginge der Verfasser gerade eben durch die Welt und mache sich seine Gedanken. Ein Text wie ein Spaziergang wäre das Richtige. Rücksicht muß dabei freilich auf die Erwartungen der Leserschaft genommen werden. Und das mindeste, was sie verlangen kann, ist Schnee. Ohne ihn kein Winterbild. Darum also weiter im Text: „Gerade war ich auf meinem gewohnten Gang durch den nahen Stadtpark, scharrte mit den Füßen noch das letzte dürre Herbstlaub vor mir her — da spürte ich's plötzlich. Zuerst auf der Nase, dann an den Ohren, schließlich sogar auf den Lippen als feuchten, eisigen Geschmack: Schnee. Der erste für dieses Jahr. Noch schmolzen die Flocken rasch auf meiner zimmerwarmen Haut. Und dennoch beschlich mich wie jedes Jahr...“
Nein, das ist nicht gut, es klingt wie Serienproduktion, als könnte man ein solches Winterbild alle Jahre wieder schreiben. Diesen Eindruck wollen wir aber gar nicht erst aufkommen lassen. Also, zweiter Versuch: „Und doch beschlich mich in diesem Jahr mehr als in früheren Wintern angesichts dieser ersten Schneeflocken ein Gefühl harter Unwiderleglichkeit: Ja, es wird Winter, die Tage werden kürzer.“ Wiederholungen bekräftigen das Gesagte und leiten zugleich zwanglos zum nächsten Gedanken über, nämlich: „Auch die verirrten Sonnenstrahlen letzter später Herbstmomente werden mich über meine Gewißheit nicht mehr hinwegtäuschen.“ Nicht schlecht, diese diskrete Andeutung allgemein menschlicher Probleme: Winter, Altern, späte Gewißheiten. Darauf wird man am Ende des Textes sicher zurückkommen: Hier liegt das Potential für eine bewegende Schlußpointe.
Vorher sind aber noch einige Anmerkungen über das sogenannte Hier und Jetzt angebracht. Wer, was, wann, wo, warum? heißen schließlich die fünf Fragen, denen der Journalist sich immer zu stellen hat. Aber hier wird kein wirklich journalistischer Text verfaßt, sondern ein Stimmungsbild, ein Feuilleton, eine Dichtung quasi. Und dabei dürfen die fünf berühmten „W-Fragen“ nicht exakt beantwortet werden. Der Trick besteht vielmehr darin, sie in vagen Formulierungen offenzulassen: „Spaziergang im Park, irgendwo in einer europäischen Großstadt, an irgendeinem Abend im Winter“ — solche Zeit- und Ortsangaben schaffen Besinnlichkeit. Nicht umsonst gelten die Monate November bis Februar als die „stille Zeit“. Dem muß man Rechnung tragen: „Merkwürdig“, so setzt der Text sich also fort, „merkwürdig, wie selten einem heutzutage das Werden und Vergehen, der ewige Wechsel der Jahreszeiten zur sinnlichen Gewißheit werden. Hier, diese kühle Schneeflocke, die mir durch den menschenleeren Park entgegenweht — kaum werde ich ihrer inne.“ „Innewerden“, das ist wohl etwas dick aufgetragen, desgleichen die „sinnliche Gewißheit“, aber sonst ist der Satz in Ordnung. Er zieht nämlich unweigerlich weitere Betrachtungen gleichen Kalibers hinter sich her: „Denn unternehmen wir im täglichen Leben nicht alles, um jede unmittelbare Begegnung mit dem Natürlichen zu vermeiden?“ Eine zivilisationskritisch hochbrisante Frage, die mit Beobachtungen aus dem Alltag beantwortet wird: „Herrscht draußen Frost, lassen wir es uns in zentralbeheizten Eigentumswohnungen gutgehen. Und modernste Beleuchtungskörper machen noch die finsterste Nacht zum Tage.“ Ist das nicht unausgewogen? fragt hier eine kritische innere Stimme. Doch, denkt der Verfasser und setzt eilends hinzu: „Gewiß: Erdgas und Elektrizität sind unschätzbare Freunde des Menschen, Segnungen, die wir dem Industriezeitalter zu danken haben. Und doch...“
H
ier stockt der Schreibfluß. Allzu viele Gedanken stören die Einheitlichkeit des Stimmungsbildes. Höchste Zeit, daß der Spaziergang im Park wieder ins Spiel gebracht wird: „Und doch vermißte ich meine geheizte, hell erleuchtete Wohnung nicht, während ich meinen Gang durch den nun schon fast menschenleeren Park fortsetzte. Das Schneetreiben war heftiger geworden, auch war ein grimmiger Wind aufgekommen. Ich vergrub meine Hände tiefer in die Manteltaschen und wanderte ins Gestöber hinein. Finster wurde es, und nur gelegentlich tauchte eine müde Straßenlaterne die Schneeflocken in ein unwirkliches Licht. Nur eine einsame alte Frau war noch unterwegs. Sie führte ihren Hund aus, wie sie es gewohnt ist. Ich grüßte sie mit einem stummen Nicken.“ Ja, das kann man so lassen. Aber wie geht es weiter? Sehr viel mehr gibt es an einem dunklen Winterabend nun mal nicht zu sehen. Vielleicht könnte man noch ein paar Tiere unterbringen: „auf einer kahlen Platane schnarrte eine zerrupfte Krähe ihr unmelodisches Lied“ oder so ähnlich. Aber das ist wohl ein eher verbrauchtes Requisit. Heute sind Gedanken wirkungsvoller als Tiere, vor allem wenn man sie beim Schneetreiben durch Stadtparks „schweifen“ läßt: „So schnell geht das also, dachte ich plötzlich: Die Stadt mit ihren Verlockungen und Gefahren liegt längst in weiter Ferne. Und dies macht der alles umhüllende Schnee. Stiller wird die Welt durch ihn, ferner, fremder. Und so ging ich weiter durch die eisige Einsamkeit. Ich sollte die Stadt verlassen, dachte ich, abreisen. Ins Gebirge, wie schön muß es dort jetzt sein. Durchatmen in klarer Luft. Und abends säße man in einer Hütte, ein Feuer prasselte im offenen Kamin, und zu einfachen Speisen tränke man Grog und Glühwein. Ob eigentlich noch irgendwer in der Welt Bratäpfel herstellt? Eigenartig: Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr an Bratäpfel gedacht.“
Und damit ist die Schilderung in die Zielgerade eingebogen: durch eisige Fernen und warme Hütten direkt in die Kindheit zurück. Man sieht diesem Weg schon an, daß er ein Heimweg werden wird. Und nur noch wenige Sätze trennen ihn von seinem Ziel: „Ein scharfer Windstoß weckt mich aus meinen Träumereien. Beinahe hätte er mir den Hut vom Kopf geblasen. Verwirrt sehe ich mich um. Wo bin ich? Kalt und naß ist es geworden, auf meinem Mantelkragen sammelt sich der Schnee.“ Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Schlußpointe, die vor einigen Absätzen schon angekündigt wurde. Hier ist sie: „Meine Uhr zeigt halb neun, ich war offenbar sehr viel länger unterwegs, als ich meinte. Umkehren, dachte ich, für heute doch besser umkehren. es schneite nun etwas weniger, aber dafür stetig. Ja, nun ist es wahrhaftig Winter geworden, sagte ich zu mir, als ich in die Straße einbog, in der ich wohne. Vor kurzem sah ich noch Sonnenstrahlen, und jetzt ist es finster und kalt. Und doch liegt dazwischen nicht mehr als ein kleiner Spaziergang.“
Gedankenstrich, Absatz. Und als Quintessenz winterlicher Nachdenklichkeit setzen wir die Bemerkung „merkwürdiges, rätselhaftes Leben“ hinzu und versehen sie mit einem, wenn nicht sogar mit zwei Ausrufezeichen.
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