: Die Metapher beim Wort genommen
Becketts „Endspiel“ in Düsseldorf und Bochum ■ Von Gerhard Preußer
Beckett ist unser Zeitgenosse nicht mehr. Er ist ein Klassiker. In Dublin, seinem Geburtsort, läuft ein multinationales Festival zu seinen Ehren, und seine Werke werden schon für Werbeslogans ausgeschlachtet. Der Kulturbetrieb ist längst dabei, einen weiteren Findling in seinem Riesenmagen einzusaften, sanft zu zerkleinern und in peristaltischen Jubiläumsschüben wieder auszuscheiden. Die bange Frage an den Klassiker, ob er uns denn noch was zu sagen habe, ist hier überflüssig. Eine Botschaft hatte Beckett nie.
Gleich zwei Theater im Rhein- Ruhr-Gebiet eröffnen nun ihre Spielzeit mit Becketts schwierigem dramatischen Hauptwerk Endspiel. Als Beckett das Stück 1967 in Berlin selbst inszenierte, war das schon unzeitgemäß. Selbst die Etiketten „Existentialismus“ und „absurdes Theater“, unter denen er in den fünfziger und sechziger Jahren so erfolgreich verkauft wurde, waren falsch. Das „zerbombte Bewußtsein“ der Nachkriegszeit konnte noch glauben, sich in Becketts beschädigten Existenzen wiederzuerkennen, und in der ästhetischen Ordnung des hermetischen Kosmos seiner Minimalkunst schamhaft Trost finden. Das heutige zerstreute Bewußtsein kann sich Beckett zwar als einen, wenn auch harten Kiesel im allgemeinen Kulturgeröll einverleiben. Heute gibt es keinen königlichen Oberzensor mehr, der darauf besteht, Gott dürfe nicht als „Bastard“, sondern nur als „Schwein“ gelästert werden (wie 1957 noch in London). Doch eigentlich sind Becketts Strenge, Kargheit, Unerbittlichkeit und Diskretion dem Zeitgeist fremd.
Die ganze Inszenierung steckt, so muß es sein, schon im ersten Wort. Denn mit dem ersten Wort hat das Stück ja alles schon gesagt, sein Ziel erreicht. Die Uraufführung drohte 1957 daran zu scheitern, daß Beckett das französische „Fini“ lang gesprochen haben wollte und Roger Blin, der Regisseur, auf kurz bestand. In Herbert Königs Düsseldorfer Inszenierung will Clov das Ende auch lang hinausziehen. Er senkt die Stimme nicht am Ende, fast ist es eine Frage. Jedenfalls ist dieses „Ende“ klar ein Anfang. Clov zieht einen roten Vorhang auf und dann noch einen. Das Spiel vom Ende beginnt mit munterer Geschäftigkeit.
Anders in Bochum. Clov durchläuft erst stumm die vorgeschriebene Pantomime: Leiter holen, Fernglas holen, Ausschau halten, rauf und runterklettern und das Ganze noch mal auf der anderen Seite. Dann steht er erschöpft am Bühnenrand und sagt sein Wort nun so entschieden, daß wir überrascht argwöhnen, Regisseur Jürgen Gosch wolle uns mit einer Kurzfassung des Dramas abspeisen. Nach diesem „Ende“ könnte wirklich alles vorbei sein. Doch das hält Clov nun doch nicht aus. Er schwächt es ab: „Es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.“
Die Düsseldorfer Inszenierung weicht deutlich von Becketts Regieanweisungen ab. Ham wird mit seinem Rollsessel von der Hinterbühne, auf der sich allerhand Gerümpel stapelt nach vorn gefahren, statt in der Mitte schon zu stehen. Nagg und Nell, die verstümmelten Eltern Hams, hausen nicht in Tonnen, sondern in verdeckelten Löchern im Bühnenboden. Der Raum hat keine Wand, an der Ham horchen könnte, und keine Fenster, durch die Clov sehen könnte. Alles ist, was es ist: die Bühne. So wird der Zuschauer von allen Spekulationen, wo und wann das Stück denn spiele (in einem Bunker? nach dem Atomkrieg?), entlastet und die Metapher des Spiels wird beim Wort genommen. Hier sind zwei Spieler, Schauspieler zwar, aber Spieler wie wir alle, die ihre Spiele zu Ende spielen wollen und sich doch nicht trauen aufzuhören.
Die so gewonnene Freiheit und Weite wird jedoch wenig genutzt, sie führt nur zur Vergröberung des Spiels. Clov läßt Ham mit Wucht gegen eine unsichtbare Wand in der Bühnengasse fahren, daß er schreit. Clov entwickelt eine Behendigkeit beim Überwinden der großen Entfernungen, die sich mit seinen körperlichen Gebrechen schwer vereinbaren läßt.
In Düsseldorf sieht man ein Vorspiel auf dem Theater, in Bochum folgt der Prolog in der Hölle. Dort hält man sich viel enger an das Modell von Becketts Selbstinszenierung, obwohl man im Gegensatz zur Düsseldorfer Inszenierung nicht den von Beckett für die damalige Inszenierung überarbeiteten Text spielt, sondern die ältere, ausführlichere Fassung. Johannes Schütz' Bühnenbild entspricht fast genau dem Vorbild: kleine Fenster hoch über dem Boden, schmutzigweiße Wände, rostige Mülltonnen für die Alten. In diesem engen Rahmen entfaltet sich in Bochum ein detailgenaues, intensives Spiel, das der Präzision von Becketts Modellaufführung nahekommt. Jürgen Gosch hat ein Schauspielerpaar, das alle Nuancen auskosten kann: Peter Roggisch ist kein natürlicher Despot, kein Polterer, sondern ein leiser Riese mit dominierender Präsenz. Sein Ham ist eitel, giftig, larmoyant, brüsk und weich. Er grunzt und gähnt und grummelt und bleibt bei allem doch ein Gentleman. So gespielt hat auch Ham Anspruch auf unsere Sympathie und wird nicht verzerrt zum blindwütigen Despoten. Aber Wolfgang Michael ist eigentlich der „jugendliche Held“ im Bochumer Ensemble, keine Idealbesetzung für den schlurfenden Verlierer Clov. Ihm gelingt das Kunststück, die Künstlichkeit, mit der er diesen alten, gebrochenen Diener spielt, nicht zu verstecken, und doch sich von der Rolle nicht zu distanzieren. Er humpelt, hechelt, hoppelt wie Freddie Frinton in Dinner for One und doch ist sein Clov nicht bloß eine Witzfigur. Dieser debile Clov hat viel von der melancholischen Stummfilmkomik, die Beckett so liebte, daß er einen Film für Buster Keaton schrieb. Auch Nagg und Nell in ihren Tonnen sind komisch und erschreckend zugleich. Hedi Kriegskotte benutzt die stereotypen Stilmittel, wackelnder Kopf, mümmelnder Mund, ohne Nell zu denunzieren und Jürgen Sebert zeigt einen Nagg, der — bläulich angefault wie ein Kino- Zombie — noch munter zynische Witze reißt. Diese Inszenierung findet jene rare Balance zwischen Humor und Horror, zwischen Banalität und Kunst, die Becketts Stücke brauchen.
Demgegenüber verblaßt der greller angelegte Düsseldorfer Versuch, das Stück groß aufzuziehen und aus dem Museum zu befreien. (Ich sah das Gastspiel in Duisburg, das allerdings durch die fremde Bühne und das spärliche Publikum noch gehandicapt war.) Hans Schulzes Ham ist zwar heftig, bitter, herrisch und verbissen, doch fehlt ihm die weiche, die intellektuelle Seite. Wenn er zum Schluß Baudelaire zitiert, dann müßte er jedes Wort abschmecken und nicht nur stottern. Winfried Glatzeder schlottert als Clov japsend durch die Bühnenweite, rutscht rasend schnell die Riesenleiter runter und seine Rockschöße fliegen: zu viel Wind für Becketts Flaute. Beckett, so scheint es, kann man dem Zeitgeschmack nicht anpassen. Wer am Ende ist, den kann man nicht mehr weiter treiben.
Samuel Beckett, Endspiel, Düsseldorfer Schauspielhaus (Großes Haus), Regie: Herbert König, Bühne: Kazuko Watanabe, Vorstellungen: 7., 10., 12., 29.10.
Samuel Beckett, Endspiel, Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele), Regie: Jürgen Gosch, Bühne: Johannes Schütz, weitere Vorstellungen: 6., 24.10.
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