: Der Moment des Innehaltens
■ Von der artifiziellen Überrumpelung der Wahrnehmung zur Überrumpelung der Gefühle oder Der Versuch des Duane Hanson, dreidimensionale Trompe-loeils zu schaffen
Duane Hanson ist, bedenkt man die heutigen Möglichkeiten zur Erzeugung visueller Realitäten, eigentlich ein altmodischer Zauberer. Hologramme, Computersimulationen, -animationen und schließlich die künstliche Welt des Cyberspace, durch die man sich wirklich bewegen kann, sind allesamt Teil einer praktischen Philosophie über Schein und Sein, gegen die sich der handfeste Abguß von Realität eher einfältig ausnimmt. Hanson benutzt zwar moderne Werkstoffe, aber seine Zielsetzung, die illusionistische Naturtreue, scheint gerade im Rahmen der Bildhauerei so überrollt zu sein, daß er wie eine Nachhut wirkt, darum bemüht, Schaufensterpuppen zu verbessern.
Entsprechen seine Figuren dem Stand der Dinge? Entsprechen sie dem Stand der inneren Bereitschaft, sich auf Simulationen einzulassen? Das Bewußtsein, an langsamere Weiterentwicklungen gebunden als die technologischen, scheint mit Freude auszuruhen auf einem Feld, auf dem sich die Verdoppelung der Wirklichkeit im wahrsten Sinne des Wortes noch begreifen läßt. All das erinnert an den alten Witz vom Indianer, der, nachdem er zum ersten Mal in einem Auto mitgefahren ist, anschließend neben der Straße steht und auf seine zu Fuß nachkommende Seele wartet. Die Hanson-Ausstellung ist ein Ort, an dem die zu Fuß gehene Seele Station machen würde...
Das Publikum vor den Kunsthallen vertreibt sich die Wartezeit mit angeregter Vorfreude: Ob man die Skulpturen unter den vielen Menschen herausfinden wird? Schon diese Frage, deren Beantwortung keinerlei ästhetische Bildung verlangt, zeigt, wie weit die Ausstellung entfernt ist vom begrenzten Kreis des Connaisseurs, dem Kreis eingeweihter Kunstliebhaber. Es gelten die Kriterien reinen Volksvergnügens: Das Publikum erwartet ein verblüffendes Spektakel, eine Sensation. Wobei die eigentliche Sensation darin besteht, daß jeder beurteilen zu können glaubt, wie gut der Künstler gearbeitet hat. Das Maß an technischer Perfektion, durch das er eine Imitation stofflicher Beschaffenheit erreicht, scheint die einzige wesentliche Qualifikation, scheint Selbstzweck zu sein. Es ist die typische Sackgasse, in die das Trompe- l'oeil, die Kunst des getäuschten und taumelnden Auges, immer zu geraten droht, und nicht wenige Kunstkritiker sind der Ansicht, des handele sich überhaupt nur um — wenn auch brillantes — Handwerk, nicht aber um Kunst, weil Kunst nicht an der Imitation, sondern an der Transformation von Wirklichkeit interessiert sein müsse. Die Begeisterung für Trompe-l'oeils ist jedoch älter und stärker als diese Einwände. Sprichwörtliche Berümtheit erlangten schon im Altertum die »Trauben des Zeuxis«, gemalte Trauben, an denen die Spatzen zu picken versuchten. Was man jeweils als illusionistische Augentäuschung empfindet, ist abhängig von den jeweiligen Rezeptionsbedingungen. Weder die Trauben des Zeuxis, noch Trompe-l'oeils aus dem 16. Jahrhundert würden uns heute irritieren — aber die Skulpturen Dunae Hansons sind dazu imstande. Sie übertragen die Spielregel des Trompe-l'oeil auf die dreidimensionale Ebene: Ein Material bildet ein anderes Material bis an die Grenze des technisch Machbaren nach.
Und dann begegnen die Besucher dem ersten Exponat. Es ist ein Museumswärter, der auf dem Treppenabsatz an der Wand lehnt. Er hat ein Funksprechgerät in der Hand. Haare in den Ohren und sein Blick ist wie aus Erschöpfung ins Nichts gerichtet. Die Leute, zwischen Erschrecken und Begreifen, wahren zunächst genau die Sozialdistanz, die wir in unserer Kultur einem lebenden Menschen gegenüber einhalten. Dies ist vielleicht das verblüffendste Indiz für die Magie der Hansonschen Figuren: das Zögern, bevor man sich in den immer näher rückenden Halbkreis einreiht, der ungeniert starrt und bald über jede Pore gebeugt die Feinstrukturen des Wunders zu entlarven sucht. Es geht hier sofort um mehr als nur um die artifizielle Überrumpelung der Wahrnehmung. Es geht auch um die Wahrnehmung der überrumpelten Gefühle: Momente von Scheu und Betroffenheit beispielsweise. Der soziale Ernst einer Menschennachbildung unterscheidet diese wesentlich von der verspielten Tradition früherer Trompe-l'oeils.
Das Kabinett des erstarrten Alltags: Zwei, die sich an einem erbärmlichen Fast-food-Tisch gegenübersitzen, eine Hausfrau, die rauchend und zeitunglesend ihre Haare unter der Haube trocknet; ein Schwarzer, der eine Hauswand anstreicht.
Die Ausstellung erinnert in gewisser Hinsicht an die Ästhetik naturkundlicher Schausammlungen. In gleicher bekannter Bewegungslosigkeit wie die Tiere aus aller Welt, die man heute nicht mehr ausstopft, sondern der realistischeren Wirkung zuliebe als Tierplastik formt und anschließend mit dem Fell des erlegten Tiers überzieht, stehen jetzt Vertreter der Spezies Mensch in den verschiedenen Posen festgefroren. Es ist ein wenig, als wären die Bewohner von Schaukästen, uns zur Belehrung, mit Haut überzogen. Und ganz wie im Naturkundemuseum vestärken die Requisiten, also das nachgestellte Umfeld, den Eindruck, man habe es mit einem Wirklichkeitsausschnitt zu tun. Vom Baugerüst bis zur halb ausgetrunkenen Kaffeetasse und Zigarettenkippen ist alles da, was signifikant zur jeweiligen Situation gehört. Die Melancholie, die sich angesichts der gründlich ausgeleuchteten Ensembles einstellt, ähnelt derjenigen, die im Halbdunkel der Naturkundesammlungen herrscht: Es ist die Melancholie angehaltener Zeit. Jede überpräzise Momentaufnahme enthält eine schmerzliche Spannung zwischen Dauer und Vergänglichkeit; ob man sich dessen bewußt wird, hängt vielleicht vom Grad der optischen Auflösung ab. Hansons Figuren sind in diesem Zusammenhang ein Extrem, das anschaulich macht.
Es richtet seine Schärfe und Detailgenauigkeit scheinbar erbarmungslos auf den häßlichen Durschnittsamerikaner, auf trivale Alltagssituationen aus der Mittel- und Unterschicht, doch obwohl es sich dabei um genaueste Milieustudien handelt, verdanken die Arbeiten Hansons ihre entscheidende Wirkung nicht dem kulturkritischen Impetus, der ihnen zwangsläufig innewohnt. Seine Kunstmenschen haben vielmehr, was man bei der Art Zurschaustellung als letztes erwartet hätte: Würde. Das, was an ihnen ins kulturspezifische, anekdotische und mimetische Extrem getrieben ist, ist lediglich notwendig, um die Rahmenbedingungen eines bestimmten Augenblicks präzise zu fassen, gewissermaßen zum Leben zu erwecken: den der Selbstvergessenheit. Der Anstreicher hat seine Farbrolle abgesetzt und schaut durch uns hindurch in eine imaginäre Ferne; der Hausfrau sind, während sie an ihrer Zigarette zieht, die Zeitschriften auf den Schoß gesunken; die beiden am Fast-food-Tischen sitzen sich gegenüber und sehen sich nicht: Es ist der Moment des unbewußten Innehaltens, der Moment halb gesenkter Augenlider oder des nicht fixierbaren, ins Nichts verrutschten Blicks. Spürbar gemacht werden jene kleinen Alltagsschwierigkeiten, die man, aus Zeit- und Funktionszusammenhang geschleudert, zufluchtsuchend neben der Realität verbringt. Das ganze Spektakel dieser hyperrealistischen Figuren kippt angesichts ihres nach innen gewendeten Blicks in eine andere Qualität: Die Fülle konkreter Details schlägt um in eine abgründige Leere. Das voyeuristische Publikum, unter lautem Geschrei angetreten, um jedes implantierte Haar zu begutachten, verstummt zusehends. Der Voyeurismus erleidet einen heilsamen Schock. Er prallt vom Objekt ab und wird zurück auf sich selbst verwiesen, denn er begegnet einer anderen Art von Intimität als der erwarteten. Hanson stellt eine Melodie nicht im mindesten bloß. Er schützt sie vor billiger Preisgabe, indem er sie im Zustand der Selbstvergessenheit, des Nicht-da-Seins im Dasein zeigt; indem er sie gleichzeitig auf unerreichbare Weise ganz bei sich selbst sein läßt. Die Magie dieser respektvollen Haltung ist es, die den exponierten Abgüssen von Menschen ihre Wirkung sichert — und zwar eine Wirkung ohne Verfallsdatum.
Noch bis in die frühen siebziger Jahre goß Hanson mit großem sozialanklägerischen Pathos Szenen gesellschaftlicher Gewalt ab, den Polizisten etwa, der mit erhobenem Schlagstock im Begriff ist, einen am Boden liegenden Schwarzen zu prügeln. Im Vergleich und in der Nachbarschaft mit seinen weniger plakativen Arbeiten aus jüngster Zeit erweist sich, wie so oft, daß der subtilere Ansatz der interessantere ist — nicht zuletzt, weil er den Status quo auf hindergründigere und weitreichendere Weise in Frage zu stellen vermag.
Kinder spielen manchmal ein Fliehkraftspiel. Sie fassen sich an den Händen, lehnen sich zurück und drehen sich bis zum Schwindel umeinander, um dann plötzlich loszulassen und aus dem Kreise geschleudert zu werden. In der Position, in der man landet, muß man ausharren. Die ausgefallendste Pose gewinnt.
Auch die Protagonisten Duane Hansons sind — obwohl durch eine andere Fliehkraft und nur um eine Winzigkeit — aus ihrer Bahn geworfen und erstarrt. Das Publikum, solange es sie betrachtet, ist ihnen zum Verwechseln ähnlich. Patricia Görg
Die Ausstellung läuft bis zum 10.11. im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 1/37, zu sehen.
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