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Gorbatschows Home-run bringt Bush in Zugzwang

■ Nach den Jahren des Wettrüstens liefern sich die UdSSR und die USA heute fast einen Wettbewerb, wer die weitreichendsten Abrüstungsschritte unternimmt. Mit seiner raschen Antwort hat...

Gorbatschows Home-run bringt Bush in Zugzwang Nach den Jahren des Wettrüstens liefern sich die UdSSR und die USA heute fast einen Wettbewerb, wer die weitreichendsten Abrüstungsschritte unternimmt. Mit seiner raschen Antwort hat Gorbatschow den Ball wieder ins amerikanische Feld befördert.

Die Vorschläge von Präsident Bush zur atomaren Abrüstung zeigen, daß das Neue Denken breite Zustimmung in der Welt gefunden hat. Sie setzen Reykjavik in angemessen würdiger Weise fort.“

Nach diesem Eingangslob an sein Gegenüber im Weißen Haus bewies Michail Gorbatschow am Samstag abend erneut, daß er gewillt — und in der Lage — ist, zumindest im Bereich der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik weiterhin die Kriterien für Neues Denken zu setzen und das Tempo zu bestimmen. Die von ihm verkündeten Maßnahmen einseitiger sowjetischer Abrüstung sowie seine Vorschläge für bilaterale und multilaterale Schritte zur Reduzierung der atomaren Arsenale gehen nicht nur positiv auf Bushs Vorschläge ein, sondern an einigen entscheidenden Punkten über sie hinaus.

Genau wie Georg Bush Ende September für die USA verkündete der sowjetische Präsident die Vernichtung sämtlicher sowjetischer atomarer Artilleriegranaten sowie der Sprengköpfe für atomare Kurzstreckenraketen. Die seit Anfang letzten Jahres ins Auge gefaßten und von der Nato bislang verschleppten West- Ost-Verhandlungen über diese landgestützten Arsenale werden damit endgültig obsolet. Gorbatschow geht mit dieser Maßnahme auf die seit dem gescheiterten Coup im Westen weitverbreitete Sorge ein, die vielen tausend Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen könnten während des Zerfalls der Sowjetunion in falsche Hände geraten und möglicherweise sogar bei Streitigkeiten zwischen oder innerhalb von Republiken eingesetzt werden. Die vielen tausend Exemplare dieser beiden Waffenkategorien sind bislang in der ganzen Sowjetunion gelagert. Nach Informationen führender westlicher Atomwaffenexperten gibt es in jedem sowjetischen Militärdistrikt mindestens drei Depots für Artilleriegranaten. Um so wichtiger ist die Mitteilung Gorbatschows, daß die von ihm verkündeten Maßnahmen und Vorschläge vom russischen Präsidenten Boris Jelzin und den anderen Republikführern unterstützt werden.

Die Entscheidung Moskaus und Washingtons zur völligen Vernichtung dieser Waffen ist nicht nur von Bedeutung für Europa. Atomare Kurzstreckenraketen sind bislang nicht nur in den westlichen Militärbezirken, sondern auch an der 7.000 Kilometer langen Grenze zu China stationiert. Und auch die US-Truppen in Südkorea sind mit atomaren Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen ausgerüstet.

Mit seiner Ankündigung der Zerstörung aller Atomminen und der Entfernung der Flugzeugabwehrraketen sowie ihrer Einlagerung in zentralen Basen beziehungsweise ihrer teilweisen Zerstörung kam Gorbatschow einer entsprechenden Aufforderung Bushs nach. Die USA verfügen seit geraumer Zeit nicht mehr über diese beiden Waffensysteme.

Auf wenig Gegenliebe dürfte in Washington hingegen Gorbatschows Vorschlag stoßen, neben den landgestützten auch die luftgestützten taktischen Atomwaffen von den Flugzeugen zu entfernen, sie zum Teil in Depots einzulagern und zum Teil zu zerstören. Auf „Basis der Gegenseitigkeit“ sollten beide Seiten eine „Modernisierung“ dieser Waffenkategorie „durch Einführung neuer atomarer Raketen und Bomben unterlassen“, schlug Gorbatschow vor. Bush hatte diese Waffenkategorie in seinen Vorschlägen ausgespart.

US-Verteidigungsminister Dick Cheney wie sein britischer Kollege King nannten taktische flugzeuggestützte Atomwaffen nach der Bush- Rede einen „weiterhin unverzichtbaren Bestandteil“ der „westlichen Abschreckung“.

Vorschläge auch an andere Atommächte

In Westeuropa fallen unter diese Waffenkategorie derzeit rund 1.400 Flugzeugbomben, die zum großen Teil auf US-Flughäfen in der Bundesrepublik gelagert sind. Auf sowjetischer Seite gibt es eine nicht genau bekannte Anzahl von Bomben für taktische Kampfflugzeuge — der Direktor des Londoner „Instituts für strategische Studien“ (IISS), Francois Heisbourg, bezifferte ihre Zahl vergangene Woche gegenüber der taz auf 5.000 bis 8.000. Sowohl die USA wie Frankreich und Großbritannien entwickeln derzeit eine neue, atomare Abstandsrakete für Kampfflugzeuge (TASM). Grundsätzlich hat die Nato die Einführung einer solchen Waffe im Zuge ihres atomaren Arsenals sowie neuer Fallbomben in Westeuropa für Mitte diese Jahrzehnts beschlossen. Mit dem Thema wird sich die „Nukleare Planungsgruppe“ der Nato auf ihrer Herbsttagung kommende Woche in Sizilien befassen.

Im Unterschied zum US-Präsidenten, der sich nur an Moskau gewandt hatte, richtete Gorbatschow seine Vorschläge nicht nur bilateral an die Adresse Washingtons, sondern auch an die anderen drei Atommächte Frankreich, Großbritannien und China. Er rief sie auf, sich den von ihm vorgeschlagenen Schritten bei den taktischen luftgestützten Atomwaffen „anzuschließen“. Außerdem regte er eine „gemeinsame Erklärung aller Atommächte zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen“ an. Eine entsprechende Forderung war in den vergangenen Jahren in Washington immer abgelehnt worden.

Auch seine Forderung nach einem Atomteststopp beschränkte der sowjetische Präsident nicht ausdrücklich auf die UdSSR und die USA. Für die Sowjetunion kündigte er einen einseitigen Verzicht auf Atomwaffentests zunächst für den Zeitraum eines Jahres an.

Bei den taktischen seegestützten Atomwaffen ging Gorbatschow in einigen entscheidenden Details über die Bush-Vorschläge hinaus. So sollen die taktischen Atomwaffen von Schiffen und U-Booten nicht nur „abgezogen“ (Bush) und in Landdepots eingelagert, sondern „zerstört“ werden. Damit würde diese Abrüstungsmaßnahme praktisch unumkehrbar gemacht — zumindest innerhalb kurzer zeitlicher Fristen. US- Verteidigungsminister Cheney hatte am Montag letzter Woche zu dieser zunächst von Bush als „einseitig und bedingungslos“ bezeichneten Maßnahme erklärt, die USA behielten sich die Wiederbestückung der U- Boote und Schiffe mit den taktischen Atomwaffen vor.

Die größten Differenzen bleiben in der Frage der strategischen Arsenale. Hier ging Gorbatschow ebenfalls an einigen Punkten über Bush hinaus, blieb in anderen Details jedoch hinter den US-Erwartungen zurück. Wie Bush bereits in der letzten Woche will auch Gorbatschow die Alarmbereitschaft für die strategische Bomberflotte der UdSSR aufheben. Die Atomwaffen sollen von diesen Flugzeugen entfernt und auf Luftwaffenbasen eingelagert werden.

Verhandlungen über START-Folgeabkommen

Auch kündigte der sowjetische Präsident die Einstellung der Entwicklung einer atomaren Kurzstreckenrakete für die strategischen Bomber an. Mit der Einstellung des SRAM-2- Projektes hatte Bush einen entsprechenden Schritt verfügt.

Darüber hinaus regte Gorbatschow an, sofort nach Ratifizierung des START-Vertrages Verhandlungen über ein Folgeabkommen aufzunehmen — mit dem Ziel einer Reduzierung der strategischen Arsenale um 50 Prozent. Die Zahl der atomaren Sprengköpfe auf strategischen Raketen solle — statt wie im START- Vertrag vorgesehen auf 6.000 — auf 5.000 verringert werden. Der Ende Juli dieses Jahres paraphierte START-Vertrag, der dem Obersten Sowjet auf dessen erster Sitzung zur Ratifizierung vorgelegt werden soll, sieht lediglich eine Verringerung von 25 bis 30 Prozent vor. Washington hatte Folgeverhandlungen bislang abgelehnt. Dabei würde unweigerlich das Ungleichgewicht bei den strategischen Seestreitkräften (zugunsten der USA) und den landgestützten Interkontinentalraketen (zugunsten der UdSSR) zum Hauptthema werden.

Bush hatte die strategischen Seestreitkräfte aus seiner Rede völlig ausgespart, die UdSSR jedoch zur Verschrottung eines großen Teils ihrer landgestützten Potentiale aufgefordert — insbesondere der Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Hierauf ging Gorbatschow nur teilweise ein. Er kündigte an, daß die Entwicklung einer neuen, kleinen mobilen Interkontinentalrakete eingestellt wird. Außerdem sollen die auf Eisenbahnwagen stationierten Raketen nicht modernisiert und die Zahl der Abschußrampen für diese Waffen nicht erhöht werden. Im konventionellen Bereich kündigte er eine Verringerung der sowjetischen Truppen um 700.000 auf drei Millionen Soldaten an.

Positive Reaktionen auf Moskauer Initiative

Die ersten internationalen Reaktionen auf die Rede des sowjetischen Präsidenten fielen allgemein positiv aus, vermieden jedoch konkrete Festlegungen. Die japanische Regierung lobte, Gorbatschow sei über die Initiative Bushs hinausgegangen. Auch London „begrüßte“ die Vorschläge aus Moskau, die jetzt „genau geprüft werden müßten“. Bundeskanzler Kohl schließlich sprach von einem „entscheidenden Schritt auf dem Weg zu mehr Sicherheit und Stabilität“. Er lobte vor allem die Absicht Moskaus zur Verschrottung aller landgestützten taktischen Atomwaffen. Auf Gorbatschows Forderung, auch die luftgestützten Arsenale in die Abrüstung einzubeziehen, ging Kohl nicht ein. Andreas Zumach

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