: Ein kollektives Lob des Kollektivs
■ Der Rotbuch-Verlag in West-Berlin, 1973 gegründet, ist gut im Geschäft/ Keine »altlinke Antiquität«
Schöneberg. Bald ist's leider vorbei mit dem Höhenflug über den Dächern von Berlin. Vier Stockwerke hoch residiert der Rotbuch-Verlag seit Urzeiten über einem baumumschmeichelten zweiten Hinterhof der Potsdamer Straße, doch im nächsten Frühjahr muß er ins schnöde Neukölln umziehen. »Wir sind auch ein Hauptstadtopfer«, trauert Martin Bauer, seit Anfang dieses Jahres politischer Lektor und einer der sieben VerlagsmitarbeiterInnen, der Zeit der milden Mieten hinterher. Eine Mieterhöhung um 80.000 Mark pro Jahr, nein, das sei zuviel, auch wenn es Rotbuch eigentlich ganz gut gehe.
Im Frühjahr wird wohl das eine oder andere Abschiedstränchen die vertrocknete Hundekacke auf der Potsdamer Straße befeuchten. Seit dem APO-kalyptischen Urknall im Jahre 1973, der die Rotbuch-GründerInnen vom Wagenbach-Verlag nach einem Streit über die Kollektivität des Lektorats abspaltete, stapelt sich die Verlagsgeschichte zwischen Buch- und anderen Deckeln in den traditionsreichen Räumen. Hier wurden einst Zwischenwände für das erste kollektive Großraumbüro entfernt und später doch wieder gezogen, hier hängt auf Fotos gebannt gleich eine ganze Ahnengalerie von Rotbuch-Kollektiven. Aber Rotbuch hätte sich wohl längst selbst den ökonomischen Garaus gemacht, wenn es mit seinen Traditionen nicht immer pragmatisch oder auch kreativ umgegangen wäre. »Wir sind kein altlinker Antiquitätenverein«, stellt Martin Bauer klar. »Sondern einer der großen Literaturverlage in Deutschland«, zitiert Vertriebsleiter Hannes Sieg lächelnd das 'FAZ‘-Feuilleton.
Von manchen früheren Überzeugungen »haben wir uns inzwischen nüchtern verabschiedet«, erläutert Martin Bauer, der redegewandte Assistent der Philosophie aus dem katholischen Rheinland, dem der ausgeschiedene katholische Philosoph Otto Kallscheuer die Stafette des Lektors übergeben hat. Die kollektive Arbeitsweise indes und den Einheitslohn von derzeit 2.200 Mark, die habe man beibehalten — nicht aus Nostalgie, sondern aus Überzeugung. »Unsere Selbstbestimmung ist sehr hoch«, insistiert der borstenblonde Vertriebschef mit sanfter Stimme. »Dadurch sind wir ungeheuer effizient«, glaubt der politische Lektor. »Es ist nur der Markt, der uns begrenzt«, fügt die junge literarische Lektorin hinzu. Gabriele Prauß ist erst seit einem halben Jahr dabei, jongliert jedoch mit den diversen Formen der Wir-Bildung genauso mühelos wie die anderen.
Aber warum blieben angesichts solch unmäßiger Selbstentfaltung keine übrig von den Gründungsmitgliedern? Weshalb ist niemand aus der heutigen vierten Kollektivgeneration länger dabei als — immerhin— acht Jahre? Und wieso ist die sogenannte Alternativszene heute so monokulturell mittelalterlich, ohne Nachwuchs und ohne weise alte Frauen und Männer? »Das Muster ist immer das gleiche«, bedauert der immer ein bißchen spitzbübisch aussehende Geschäftsführer Stefan Wantzen, »die Leute steigen bei uns mit 30 ein und mit 40 aus. Nicht etwa, um dann in einen hierarchischen Normalverlag einzusteigen, das besitzt dann keine Attraktivität mehr, sondern um als Selbständige noch freier entfaltet zu arbeiten.« Das Problem sei, befindet auch Philosoph Martin Bauer, »daß es der Alternativkultur nicht gelungen ist, ihr eigenes Gedächtnis zu organisieren«. Erinnerung gäbe es »nicht ohne Instanzen, aber die können in der alternativen Basisdemokratie nicht gut gedeihen.«
Das gewichtigste Gegenargument gegen diese nicht unplausible These ist allerdings die Existenz von Rotbuch selbst. Was ist ein Verlag anderes als das kollektive Gedächtnis seines politischen Umfelds — und manchmal auch sein Alibi? Wie gut, daß es den Rotbuch-Verlag schon in den 70er Jahren gab: die dort veröffentlichten Abrechnungen mit dem Realsozialismus schmücken heute als wertvolle Beweisstücke kontinuierlich kritischer Gesinnung unsere Bücherregale. Wer keinen Heiner Müller, keine Herta Müller, keinen Thomas Brasch im Schrank hält, wird heute als Wendehals schon ausgepfiffen.
Was nicht heißen soll, bitteschön, der Rotbuch-Verlag betreibe Devotionalienhandel. Nein, die MacherInnen versuchen, aktuelle Fragen aus dem Strudel der politischen Ereignisse abzuschöpfen, um sie in ihrem nach wie vor kollektiv verabschiedeten Verlagsprogramm zu berücksichtigen. Damit aber sind selten größere Beträge und höhere Auflagen als 4.000 bis 6.000 Stück ins Haus zu holen. Gäbe es nicht solche Renner wie der 100.000mal verkaufte Comicstrip Flucht aus Berlin von Gerhard Seyfried oder bestimmte Titel aus der neuen Krimireihe, könnten einige der jährlich 50 neuen Bücher wohl nicht produziert werden. So aber kommt man auf einen ansehnlichen Jahresumsatz von knapp drei Millionen Mark.
Dennoch sieht sich der Verlag auch als »Wendeopfer«. Der neu aufgebaute Vertrieb gen Osten, stöhnt Hannes Sieg, sei das reine Zuschußgeschäft. Richtiggehend »frustran« sei es, stimmt ihm Martin Bauer bei, daß man dort zwar »Ratgeber für Rauhhaardackel« und »Angelique palettenweise« loswerde, nicht aber »Grundlagenbücher« wie Eberhard Seidel-Pielens Krieg in den Städten. Dessen Analyse erhielt mittlerweile durch die Ereignisse von Hoyerswerda eine traurige Bestätigung: Das Abfackeln von Flüchtlingsheimen wurde unter rechtsradikalen Jugendbanden zum Volkssport. »Die fehlende politische Kultur in der Ex- DDR«, so befürchtet Martin Bauer, werde wohl noch einige andere mühsam in Jahrzehnten aufgebaute Tabus brechen. Auch diese Aussicht stoppt den Höhenflug über den Dächern Berlins. Ute Scheub
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