: Erste Sahne aus Las Vegas
■ Die Geschwister Pfister in der Freien Volksbühne
Das Showbiz lebt nicht zuletzt von den Legenden, die sich um seine Stars ranken. Ohne deren Affären, Ehen und Scheidungen, Süchte und Entziehungskuren wäre der Betrieb praktisch tot. Besonders anrührend mutet da das Schicksal der vier aus dem schweizerischen Zermatt stammenden Geschwister Pfister an. Als ihnen vor zwanzig Jahren nach dem Vater auch die Mutter starb — was wäre wohl aus den Waisenkindern geworden, wenn sie nicht, oh Glück!, einen Onkel in Amerika gehabt hätten. Und der lebte ausgerechnet in Las Vegas. Onkel Bill, erzählen sie noch heute voller Dankbarkeit, gab ihnen nicht nur »Shelter, Love and Home«, sondern ließ sie auch von der Pieke auf das Showgeschäft lernen.
Heute sind sie gefeierte Stars in Las Vegas — und nur allzugern möchte man den vier Akteuren aus der Schweiz (Lilan Naef, Tobias Bonn, Max Gertsch, Christoph Marti) die Rühr-Geschichte glauben. Sie sprechen akzentfreies Amerikanisch und beherrschen ihr Repertoire von Musical-Hits, a capella oder mit Klavierbegleitung (Johannes Roloff), souverän. Eine Ohr- und Augenweide: die distanziert-verschmitzte Lilo, der Glamour-Alpenbur Ursli — mit kariertem Jacket, kurzer Hose und Wanderstiefeln — der schmierige Elvis-Verschnitt Willi und der elder brother Toni agieren in Choreographien, die viel Platz für Mimik lassen. Vor allem die drei Brüder verstehen es hervorragend, dumme Grimassen zu schneiden, die Chorbegleitungen der Sanges-Soli werden durch Übertreibung ins Klischee gezerrt.
Nostalgisches Versinken im Vertrauten ist also nicht angesagt bei dieser ironisierenden Hommage an die Welt des Musicals. Vor allem aber sind die Melodien für's Gemüt, so der Titel des Programms, kein reines Song-Potpurri, sondern eingebettet in Spielszenen, in denen die Waisenkinder ihre tragische Geschichte erzählen. Wie die Mutter starb, und wie verlassen sie sich fühlten in der Fremde Amerikas, bis Onkel Bill sie schließlich zu gefeierten Stars machte.
Nur sind sie dabei zu kulturellen Clowns geworden, die sich ihrer Heimat in genau den Klischees erinnern, die sich das mediendurchtränkte Alltagsgemüt von ihr macht: die Schweiz, ein Land aus Schokolade, Uhren und Alpen. Ach ja, und Käse, der mit den Löchern, der zusammen mit Lilo die Hauptrolle im Opening bestreitet. So werden fröhlich Banalitäten aneinandergereiht, und über ein ganz klein wenig Sprachkenntnisse sollte man schon verfügen, um dem mit Wortspielen durchsetzten changieren zwischen Amerikanisch und Schwyzerdütsch mit Vergnügen folgen zu können.
Eine Pause gönnen die Pfisters dem Publikum bei der rund eineinhalbstündigen Aufführung nicht — dafür aber sich selbst. Sie mutieren zur amerikanischen Touristengruppe, mit Käppi und Kuh-Glöckli, die in den Alpen Brotzeit hält. Dabei reden sie dann so daher, wie Touristen bei solchen Anlässen eben zu sprechen pflegen. Daß die Schweizer ein glückliches Volk sein müssen, weil sie in die Berge gehen, den ganzen Tag darin herumjodeln, »and in the evening they have chocolate«. So täuschend echt ist das gespielt, daß man von Satire nicht reden mag — eher schon davon, daß die Realität längst zur Realsatire verkommen ist.
Für solche Szenen nehmen sich die Künstler, ganz eins mit ihrer Figur, viel Zeit. Zeit, die auch der Zuschauer gewinnt, der so plötzlich aus der Haltung des gierigen Kunstverzehrers herausgerissen ist. Nahrung ist ja sonst genug: da singt Willi sein italienisches »a qui« im Schlotter- Vibrato, machen Lilo und Ursli den Kuckuck, oder präsentieren alle vier ein Stückchen, das sie den bolivianischen Bauern im Morgengrauen abgelauscht haben.
Das war natürlich auf ihrer letzten großen Welttournee.
Und da sage keiner, die hätte ja gar nicht stattgefunden, und die Geschwister Pfister wären nicht jene berühmten Pfisters aus Las Vegas. Wer könnte das denn nachprüfen, und schließlich: wenn die Wahrheit Legende ist, muß wenigstens die Legende wahr sein. Sonst bleibt ja nichts. Bernd Gammlin
Weitere Gastspiele in der Kassenhalle der Freien Volksbühne, Schapestraße, Berlin 15: am 13., 20. und 26.10. um 23 Uhr, am 27.10. um 21 Uhr
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