: Endet die Schocktherapie im Ruin?
■ Radikalkur stürzt Polen und die CSFR in tiefe Wirtschaftskrise/ Ungarns sanfterer Kurs zeigt Erfolg
Wien (afp) — Erste Erfolge im Kampf gegen die Inflation haben in den letzten Monaten die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn verbucht. Dagegen schreitet der Preisauftrieb in Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien ungebremst voran. Osteuropäische Wirtschaftsexperten warnen deshalb und angesichts weiter anwachsender Arbeitslosigkeit und sinkender Industrieproduktion vor einer sozialen Explosion, die den Übergang zur Marktwirtschaft in Frage stellen könnte.
„Seit zwei Monaten sind die Preise stabil“, konnte im September der tschechoslowakische Notenbankpräsident Josef Tosovsky verkünden. „Wir hoffen, daß sich die Preissteigerungen bis Ende des Jahres bei einem Monatsrhythmus von einem Prozentpunkt einpendeln werden“, fügte er hinzu. Trotz dieser optimistischen Erwartungen wird die Inflation 1991 auch in der CSFR bei 50 Prozent liegen.
In Polen sind die Zahlen der vergangenen Monate ebenfalls durchaus ermutigend. Gegenwärtig liegt die monatliche Inflationsrate dort bei zwei Prozent, im Juli waren es sogar nur 0,1 Prozent. Im Gesamtjahr kann deshalb auch in Polen mit einer Inflationsrate von 50 Prozent gerechnet werden, während es 1990 noch 250 Prozent waren. In Ungarn liegt die Jahresinflation bei 35 bis 38 Prozent. Für 1992 erwartet Budapest ein Ergebnis deutlich unter 30 Prozent.
In Rumänien und Bulgarien dagegen wuchern die Preise weiter. In den ersten fünf Monaten 1991 betrug der Anstieg in Rumänien 228 Prozent und in Bulgarien von Januar bis August 485 Prozent. „Diese beiden Länder haben einerseits die Preise freigegeben, sind aber andererseits noch nicht in der Lage, eine Wettbewerbswirtschaft zu etablieren, die die Inflation bremsen könnte“, analysiert ein Mitarbeiter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). In Jugoslawien ist angesichts des Bürgerkrieges die Inflationsrate von 200 Prozent, die nicht zuletzt auch durch den Konflikt angeheizt wird, eines der geringeren Probleme.
Bei Arbeitslosigkeit und Rezession sitzen alle Länder Osteuropas in der gleichen Patsche: Infolge der unablässigen Schließung unrentabler Betriebe und der Austrocknung der Handelsströme zwischen den ehemaligen Partnern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), steigen die Erwerbslosenzahlen Monat für Monat.
In Polen sind zwei Millionen Menschen ohne Anstellung, das sind zehn Prozent der Erwerbsbevölkerung. In der Tschechoslowakei überstieg die Arbeitslosenzahl im August die Marke von 400.000, bis Jahresende dürften es 650.000 sein. Auf Stellensuche waren Ende August 270.000 Ungarn, Ende 1991 werden es 300.000 oder sechs Prozent der Erwerbsbevölkerung sein. In Bulgarien rechnet die Regierung mit 400.000 registrierten Arbeitslosen, etwa 12,5 Prozent. In Rumänien liegt die Vergleichszahl bei 500.000.
Gelassen geben sich nur die Wirtschaftspolitiker in Ungarn, das von westlichen Investoren als das stabilste RGW-Land eingestuft wird und eine eher sanfte Privatisierungspolitik betreibt. Sie glauben, spätestens im kommenden Frühjahr aus dem Gröbsten heraus zu sein.
In Warschau und Prag dagegen mehren sich die Stimmen, die vor einer weiteren Vertiefung der Wirtschaftskrise warnen. Polen und die Tschechoslowakei haben auf eine Radikalkur gesetzt, um den Übergang zur Marktwirtschaft so schnell wie möglich Zeit zu vollziehen. „Die Reformen haben einen kritischen Punkt erreicht“, warnte vor einigen Wochen der polnische Regierungschef Jan Krzysztof Bielecki. Und das tschechoslowakische Bürgerforum, Vorsitzender ist Außenminister Jiri Dienstbier, verlangt, den Reformrhythmus zu bremsen. Andernfalls würde das Land total runiniert.
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