: Der Ernstfall staatskonformer Normalität
Thomas Laugstien über die deutsche Philosophie im Nationalsozialismus ■ Von Ulrich Johannes Schneider
Der Vorsitzende Arnold Gehlen muß die Tagung der „Deutschen Philosophischen Gesellschaft“ 1942 leider absagen; er beruft sich dabei auf „die Verhältnisse“. Tatsächlich war 1942 wohl kein gutes Jahr für Philosophie-Kongresse — aber gilt das nicht auch für die vorangegangenen neun Jahre? Waren denn nicht „die Verhältnisse“ vor dem Krieg schon schlecht für die Philosophie? Sicher waren sie es, wenn man den Blick der jüdischen Denker teilt, die ins Exil gezwungen wurden, oder wenn man sich vorzustellen versucht, was alles nicht mehr laut gesagt (bzw. leise gedacht) werden durfte, seitdem die Nationalsozialisten das politische und geistige Leben zu beherrschen begonnen hatten. Wie aber stand die Philosophie in den neuen Verhältnissen? Das „Dritte Reich“ des NS-Staats war ja nicht, wie die marxistisch-leninistisch orientierte Sowjetunion, mit einer Tradition des philosophisch- politischen Denkens verbunden. Und wenn ersatzweise „das Deutsche“ in den Geistes- und Naturwissenschaften, ja sogar in der Mathematik zu wissenschaftlichem Einfluß gelangen konnte, wie verhielt es sich damit in der Philosophie? Es gab Philosophen, es gab Professoren und Studenten der Philosophie, was taten sie nach 1933?
Unser Bild heute, nach den Debatten der letzten Jahre über die Rolle Heideggers im nationalsozialistischen Deutschland, scheint gleichsam mit Weichzeichner gemalt: wenn man einmal von den Lehrverboten für jüdische oder mit Juden verwandte, sowie für „linke“ oder sonstwie kritische Professoren absieht (Max Horkheimer war damals der einzige Marxist), und natürlich die allgemeine Unmöglichkeit freier Meinungsäußerung in Rechnung stellt, dann war alles — „normal“. Normal, das heißt: wie vorher und wie nachher. Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Philosophie waren so normal, vermuten wir, wie sie sein konnten. War nicht damals, als Opposition verboten wurde, die Vermeidung von Anpassung bereits Verdienst?
Wir vermuten und sicher gelegentlich richtig. Bei Nicolai Hartmann hörte man Philosophie, „und nichts anderes“, bestätigt Karl Jaspers, selbst ein überzeugter Nichtangepaßter, der auch seine jüdische Frau nicht verließ, als es opportun war. Hans-Georg Gadamer beruft sich ebenfalls darauf, „nur Philosophie“ gelehrt zu haben, damals in Leipzig. Aber was wissen wir wirklich? Bislang sehr wenig, und erst jetzt, dank Thomas Laugstien, sehr viel mehr. Den Weichzeichner vertauscht Laugstien mit einem harten Bleistift und versucht, deutlicher wiederzugeben, wie die Jahre nach 1933 philosophisch aussahen. Nachdem man in letzter Zeit den Eindruck gewinnen konnte, fast alle Wissenschaften hätten ihre Geschichte auch dieser Zeit aufzuarbeiten begonnen, wartete man lange auf einen Beitrag zur Philosophie. Nach den ersten Arbeiten von Alex Demirovic, Monika Leske und anderen ist Laugstien nun diese Geschichte der Philosophie im großen und ganzen angegangen.
Laugstien hat mit Wolfgang Fritz Haug zusammengearbeitet, der im letzten Jahr einen Sammelband „Deutsche Philosophen 1933“ herausgab (— dieser Band hat in Deutschland noch nicht viel Beachtung gefunden, wird aber ins Französische übersetzt). Aus Haugs philosophischen Überlegungen hat Laugstien auch einen „ideologie-theoretischen“ Ansatz entlehnt, mit dem er arbeitet. Wozu dieser Ansatz auch sonst taugen mag, im vorliegenden Buch hat er sichtbar die Sensibilität für die Problemlage verstärkt. Laugstien hat in quälender Kleinarbeit Motive eines Bilds zusammengesetzt, die historisch informieren und zugleich nachdenklich machen. Worum geht es ihm? „Uns interessiert die ,normale‘ Philosophie. Es geht nicht um faschistische Philosophie, sondern um die Institution Philosophie im Faschismus.“ Mit diesem Interesse verbindet sich also die Frage nach der Funktion all dessen, was am akademischen Fach „Philosophie“ in der Zeit von 1933 bis 1945 funktionierte.
Man stellt sich leicht und gerne eine Dekadenzgeschichte vor, etwa nach dem Schema der Tagungen der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“: deren erste fand 1933 in Marburg statt, mit Repräsentanten des „neuen Staats“; Hitler sandte ein Grußtelegramm. Zweite Station 1936: die staatlichen Repräsentanten fehlen; es wird ein Grußtelegramm an Hitler gesandt. 1942, dritte Station, fällt die Tagung aus, siehe oben. Die „Verhältnisse“, die Gehlen verantwortlich machte, waren Parteidienststellen. Auch andere Tatsachen bezeugen einen Niedergang des Ansehens der Philosophie. So sinken die Studentenzahlen, in München etwa im Zeitraum von 1929 bis 1938 von 1579 auf 557. Die Besetzung vakanter Lehrstühle geschah nur schleppend; 1936 gab es im „Reichserziehungsministerium“ die Devise, nur zwei Philosophie-Professuren pro Universität zu gestatten, eine davon vorzugsweise für Psychologie und Pädagogik.
Kein Intermezzo des Abnormen: der normale Ernstfall
Laugstien nimmt in vielen einzelnen Abschnitten eine differenzierte Gliederung der „Philosophie-Verhältnisse“ vor, und beugt der Gefahr der Verwirrung hauptsächlich dadurch vor, daß er immer vom Schicksal Einzelner auszugehen bemüht ist. Eduard Spranger und Martin Heidegger sind durchgängig verwendete Beispielfiguren. Die Perspektive auf die Philosophie als akademischer Betrieb gewinnt — von den Reden und Taten einzelner Beteiligter aus rekonstruiert — eine (meist bedrückende) Intensität. Insgesamt läßt sich sagen, daß die ideologischen Konflikte eine „verhältnismäßig“ geringe Rolle spielen. Daß ein Beitrag Heideggers 1942 für das Jahrbuch Geistige Überlieferung des von Ernesto Grassi geleiteten Berliner Instituts „Studia Humanitatis“ von deutschen Parteistellen zu verhindern gesucht wurde und der Einspruch Mussolinis nötig war, um den Text des inzwischen mißliebigen Denkers zuzulassen, scheint eher eine Ausnahme zu sein. Die Arena der Konflikte war nicht so sehr die Weltanschauung, die von Alfred Rosenberg und von Ernst Krieck dem Nationalsozialismus zwar angedient worden ist, aber sich weder bei der Parteiführung noch an den Universitäten durchsetzte. Die Arena muß man vielmehr im täglichen Verwaltungshandeln und im gewöhnlichen Sagen und Tun der Professoren suchen. „Der NS ist kein Intermezzo des Abnormen, sondern der Ernstfall staatskonformer Normalität der Institution. Das ,Philosophieren‘, dieser in der Vorstellung seiner Akteure so staatsferne, allen Äußerlichkeiten entrückte Vorgang, wird von der Macht unmittelbar besetzt, kontrolliert und ausgeforscht, weil bisherige Rechtsgarantien für akademische Freiheiten entfallen.“
Mit Nachdruck macht Laugstien klar, daß es vor allem die Geschichte des institutionellen Handelns ist, die bis heute verdrängt wurde; die schäbigen Hinweise in Gutachten auf die politische Unzuverlässigkeit eines Bewerbers, die schamlose Ausnutzung der durch staatliche Willkür freigeräumten Posten für die eigene Karriere, der vorauseilende Gehorsam gegenüber der Partei, kurz: der ganz gewöhnliche Konformismus.
Auch die Strategien des Protests, etwa die Distanzierungsversuche Sprangers, können dem Konformismus nicht wirklich widersprechen; es resultiert der moralische Protest und die Verweigerung innerer Gefolgschaft höchstens in einer Privatisierung des Gewissens, die angesichts einer von oben herab und äußerlich organisierten Gesellschaft nur eine andere Form der individuellen Ohnmacht darstellt. Das soll nicht heißen — und Laugstien legt es nirgendwo nahe —, daß die kleinen Fluchten und Proteste nicht eine gewisse Wirkung hatten. Nur die Frage, ob man der „Vermischung von Werk und Weltanschauung“ (Habermas über Heidegger) damals wirklich entgehen konnte, ohne Amt und Würden zu verlieren oder sich innerlich zu korrumpieren, wird dadurch nicht ausgeräumt.
Es ist eine fatale Dialektik, die die Philosophen mit den staatlichen Eingriffen in die Universität einverstanden sein läßt, und diese Dialektik entsteht nicht erst nach 1933. Denn die verbeamteten Philosophen begreifen ihre Aufgabe traditionell nicht allein vom Inhalt ihrer Lehre her, sondern auch vom „Wesen der Universität“ bzw. der Wissenschaft her. Es war seit dem frühen 19. Jahrhundert eine aus der deutschen Philosophie nicht wegzudenkende Tendenz, sich selbst als Wissenschaft aller Wissenschaften und damit auch als Legitimationsquelle der Universität auszugeben. Die Spannung zwischen der „reinen“ Philosophie und der „politisierten“ Wissenschaft, die Laugstien zu dekonstruieren versucht, hat eine Geschichte, die unter den Bedingungen der faschistischen Reorganisation der Gesellschaft einseitige Resultate zeitigt.
Die Wissenschaft als Humboldts „moralische Macht“
Es ist keineswegs zu weit hergeholt, an Wilhelm von Humboldts Legitimation der Berliner Universitätsgründung zu erinnern: Gegenüber dem König rechtfertigt er die neue Institution nach traditionellem Muster als effektive Ausbildungs- und Lehranstalt, schon die erste Denkschrift nach seinem Rücktritt 1810 aber läßt keinen Zweifel daran, daß Humboldt mit der Universität auch die Akademien überflüssig machen wollte. Den Akademien oblag seit dem 17. Jahrhundert die Forschung, den Universitäten dagegen die Lehre. Humboldt nun wollte die Wissenschaft im Dienst des Staates zu einer „moralischen Macht“ erheben und proklamierte die Verbindung von Forschung und Lehre in einem einheitlichen Institut. Der Propagierung dieses Humboldtschen Ideals widmete sich fortan in Deutschland eine umfangreiche „Universitätswesenliteratur“. Wie ein Schleier legte sich eine Staatsdienst und Wissenschaftseifer verbindende Ideologie über die tatsächlich höchst komplexe Struktur der in den Universitäten zusammengefaßten Disziplinen. Und nach 1933 bot sich die Gelegenheit, den gesellschaftlichen Auftrag der Universität gegen ihre Wissenschaftlichkeit auszuspielen.
Den „Dienst an der Volksgemeinschaft“ stellte der Reichsdozentenführer Walter Schulze 1938 als Hauptaufgabe der Wissenschaft fest, wie es schon Reichserziehungsminister Rust bei den Feierlichkeiten zum Heidelberger Universitätsjubiläum 1936 getan hatte. Zum selben Anlaß sprach der Heidelberger Philosophieprofessor Ernst Krieck gegen die Ideologie einer wertfreien Wissenschaft, die sein Tübinger Kollege Theodor Haering 1935 in einer „Rede für den Geist“ auf das Führerprinzip verpflichtet hatte. Der „politische Dozent“ ist nach Meinung des Berliner Philosophieprofessors Alfred Baeumler kein theoretischer und kein neutraler Mensch. Baeumler trug bereits 1933 vor den Studenten in München und Göttingen den Gedanken vor: „Die Hochschule der Zukunft wird politisch sein, weil sie gegründet ist auf den politischen Charakter der Wissenschaft...“ — die dem Staate aus eigenem Antrieb dienen will. 1940 schrieb er noch: „Der Geist der echten Wissenschaft ist staatsverwandt.“
Solche Bekenntnisse dürfen nicht überraschen, sie waren in den Abhandlungen zum „Wesen“ der Universität gut hundert Jahre lang, vor allem von Philosophen, vorbereitet worden. Sie sind allerdings einseitig, weil sie die praktisch wirkliche Dienstbarkeit der Staatsanstalt Universität zum alleinigen Beurteilungskriterium erheben. Der Diskurs der Nachkriegsjahre schlägt mit umgekehrter Einseitigkeit zurück: nach 1945 gibt es kein Halten mehr für das Lob des „freien Reichs des Geistes“. Karl Jaspers, der „Die Idee der Universität“ schon 1923 expliziert hatte, veröffentlicht eine umgearbeitete Studie mit demselben Titel gleich 1946 (er hat es ein drittes Mal 1961 getan). Hier spricht er vom „Grundwillen des Menschen, das grenzenlose Wahrheitssuchen um jeden Preis zu wagen“. Das Pathos treibt die Sprache auch des Münchener Universitätssyndicus Franz Thierfelder, der 1947 seine Universitätsidee mit den Worten bekräftigt: „Ihr Geist nährt sich aus dem Überzeitlichen und empfängt seine Heiligung aus dem Ewigen.“ Kein Wunder, daß das aufpolierte Elfenbein des Gelehrtenturms den Blick zurück mit dem Glanz der neugewonnenen Unschuld blendet: „Nationalsozialistische Vergewaltigung“ ist schon der konkreteste Ausdruck, mit dem Jaspers einräumt, daß die Universität des Jahres 1945 eine Vorgeschichte hat.
Mit dem Wissen um die gegensätzlichen Legitimationsversuche der Universität nach 1933 und nach 1945 kann man wenigstens erahnen, mit welchen Schwierigkeiten Laugstien konfrontiert war, als er das Fach Philosophie an der Institution Universität untersuchte. Denn es ist dieses Fach zugleich der Ort der Legitimation der Wissenschaften gegenüber Staat und Gesellschaft, und die Fachvertreter zugleich engagierte Anwälte einer allgemeinen Rede des „Wesentlichen“, die auf die konkrete Ebene der akademischen Arbeit keinen Bezug nimmt. Laugstiens Informationen zur Geschichte der Gesellschaften, der Zeitschriften, der Lehrstühle, seine Einblicke in die Aktionen und Reaktionen auf die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des Jahres 1933 sind daher wie erste Schritte zu einer Geschichte der Ethik der akademischen Intellektuellen, erste Annäherungen an eine Archäologie des akademischen Arbeitens, die durch das hauptsächlich von Philosophen vorgetragene spekulative Geschwafel über Universität und Wissenschaft nachhaltig unmöglich gemacht wurde. Die „Normalität“ der Universitätsphilosophie gilt es auch sonst zu erforschen, den Konformismus der beamteten Denker auch heute zu kritisieren. Über den Beitrag zu einem verdrängten Kapitel deutscher Philosophiegeschichte hinaus liegt der Wert dieses Buches deshalb zuletzt darin, die wissenschaftsethischen Probleme institutionalisierter Philosophie historisch deutlich gemacht zu haben.
Thomas Laugstien: Philosophie- Verhältnisse im deutschen Faschismus. Argument-Verlag, Hamburg 1990. Mit 7 Tabellen und Register, 225 S., DM 18,50.
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