: Magister — das hört sich neu und gefährlich an
■ Noch irren Hoffnungsvolle durch das Labyrinth der Rost- und Silberlaube/ Ab Mitte Oktober bevölkern 17.000 Erstsemester die Berliner Universitäten/ Freiheitsmüdigkeit bei westdeutschen, Unsicherheit bei ostdeutschen StudienanfängerInnen, die sich mit der freien Wahl quälen
Charlottenburg/Mitte/Dahlem. Manche Erstsemester machen Anstalten, die Tür einzutreten, wenn außerhalb der offiziellen Studienberatungszeiten tatsächlich keine Beratung stattfindet. Andere veranstalten ein Riesenspektakel, beschimpfen die anwesenden Angestellten und wollen das Geld für ihre Fahrkarte aus Mecklenburg wiederhaben.
Wolfgang Gast, der Leiter des Referats allgemeine Studienberatung und selbst Studienberater an der Humboldt-Universität (HUB) hat schon dramatische Szenen erlebt. »Dafür machen sich unsere Mädchen oft richtig hübsch, wenn sie herkommen«, sagt er.
Mitte Oktober beginnt das Wintersemester, und voraussichtlich 17.000 werden sich zu diesem Semester an den drei großen Universitäten Berlins neu immatrikuliert haben. Noch irren die hoffnungsvollen StudienanfängerInnen durch das Labyrinth der Rost- und Silberlaube, verlaufen sich in den unübersichtlichen Hallen der Technischen Universität oder versuchen, sich in den endlosen Gängen und Winkeln der Humboldt-Uni zurechtzufinden.
Gemeinsam ist ihnen allen die Desorientierung und das »Erstsemester-Syndrom«: »Sie tun so, als kennten sie tausend Leute und seien ungeheuer beschäftigt«, erzählt ein Mitglied der Erstsemesterbetreuungsgruppe am Fachbereich Geschichte der FU. Gemeinsam sind ihnen auch die Fragen nach Stundenplangestaltung, Fächerkombinationen, Studienverläufen, die Suche nach einem Dach über dem Kopf und häufig der Kampf mit den Bafög- Formularen. Die meisten wollen mindestens 40 Wochenstunden belegen und meinen, sie müßten möglichst alle Scheine fürs Grundstudium im ersten Semester machen. »Ich höre ungefähr hundertmal am Tag die Frage: Ich habe mich jetzt immatrikuliert, und wie geht es weiter? Da könnte man ein Tonband laufen lassen«, sagt Claudia Knauer, Studienberaterin an der TU.
Die heutige Erstsemestergeneration unterscheidet sich kaum von der vorigen. Marion Klippel, die Leiterin der allgemeinen Studienberatung an der TU, beobachtet allerdings eine zunehmende Entscheidungsmüdigkeit bei den StudieninteressentInnen. »Sie fragen mehr nach ihren späteren Berufsaussichten als nach ihren Interessen. Die Freiheit, die an der Uni herrscht, die natürlich Anforderungen stellt an Selbständigkeit und Organisation, ist nicht mehr so gefragt.«
Auch die »Studienrenner« haben sich verlagert. Neben den altbekannten wie Human-, Zahn- oder Veterinärmedizin, Pharmazie und Psychologie werden Wirtschaftswissenschaften und Jura immer beliebter.
Die Erstsemester aus den neuen Bundesländern sind noch unsicherer, was die Gestaltung ihres Studiums angeht. »Für sie ist es erst mal unvorstellbar, sich einen eigenen Stundenplan zusammenzustellen, die wollen von uns doch immer genau wissen, was sie belegen sollen«, sagt Marion Klippel. Die TU veranstaltet daher heute um 14 Uhr eigens eine Einführungsveranstaltung mit dem Titel »Wie organisiere ich mir mein Studium selbst?«.
Auch Wolfgang Gast von der HUB berichtet, die Studierwilligen aus den neuen Bundesländern seien weniger gut informiert und wollten oft eine grundsätzliche Beratung. Sie wollen über das Studienangebot und die Studienabschlüsse an sich informiert werden. »Magister, das hört sich so neu und gefährlich an.« Sie fragen nach dem, was jetzt neu ist an der HUB, schließlich sind alle 120 Studiengänge neu projektiert. Probleme haben sie auch mit der westdeutschen Bürokratie. Viele kommen mit dem Ausfüllen der Bafög- Anträge nicht klar. »Die Ausdrücke dort entsprechen nicht unserem Sprachgebrauch«, formuliert der Studienberater vorsichtig. Die jungen Leute hätten sich aber schon verändert im Laufe des letzten Jahres, findet er. Sie seien selbstbewußter geworden in ihrem Auftreten und befreiten sich langsam aus den alten Zwängen und Vorstellungen.
Ein spezifisch östliches Problem ist das der AkademikerInnen, deren Abschlüsse im vereinten Deutschland nicht mehr anerkannt werden. Martina K. zum Beispiel hat Erzieherin studiert und arbeitet bereits seit zehn Jahren in ihrem Beruf. Seit der Wende ist sie in einer Neuruppiner Begegnungsstätte für Umwelterziehung zuständig, und sie hat großen Spaß an dieser Tätigkeit. Im April nächsten Jahres wird sie arbeitslos, da ihr Chef ihren Abschluß nicht anerkennen will. »In der DDR hätte ich mit meinem Beruf alles mögliche machen können. Jetzt ist er nichts mehr wert.« Noch nicht einmal Kindergärtnerin könne sie damit noch werden. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern muß jetzt ein vierjähriges Studium der Grundschulpädogogik absolvieren, um nachher wieder in ihrem alten Beruf zu arbeiten. Da sie die Kinder nicht der schönen Umgebung von Neuruppin entreißen will, muß sie pendeln. Der Vater der Kinder kann den Abschluß, den er als Sportlehrer nachmachen muß, per Fernstudium erwerben und ist so in der Lage, die Kinder zeitweise zu versorgen.
Heike L. und Gabi W. studieren derzeit am Institut für Lehrerbildung im Ostteil der Stadt. Im nächsten Frühjahr haben sie einen Abschluß in der Tasche, der überhaupt nichts wert ist. »Wir sind dann ausgebildetete Lehrerinnen, und in dem Studium, das wir dann noch mal machen müssen, wird uns nichts anerkannt«, stöhnen sie. »Das trifft vor allem Frauen, die in den Bereichen Lehramt, Erziehung und Sonderpädagogik studiert und zum Teil schon gearbeitet haben«, sagt Marion Arnold, FU-Studienberaterin.
Arend Wellmann vom Info-Büro des FU-Astas rät den Neulingen, erst einmal ganz ruhig anzufangen und sich in der Stadt und in der Hochschule gründlich umzuschauen. »Wer sich nicht in den ersten Semestern ein soziales Umfeld aufbaut, für den wird es irgendwann auch schwierig.«
Für speziellere Beratungen schickt er sie dann weiter zu ihren Fachschaften. Die versuchen auch, von Anfang an mit Feten und Tutorien dem drohenden Uni-Frust entgegenzuwirken. Die Geschichtserstsemester werden nach der professoralen Einführungsveranstaltung — »im letzten Semester haben die nur die Studien- und Prüfungsordnungen runtergeleiert und uns prophezeit, daß wir sowieso als Taxifahrer enden würden« — erst mal zum Sektfrühstück eingeladen. Corinna Raupach
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