Nichts ist, wie es ist

Ein Inferno des Zweifels: „Barton Fink“ von den Coen-Brüdern  ■ Von Christoph Boy

Die Rezeption eines Hotels, auf der Theke eine Klingel, mit der sich der Portier herbeirufen läßt. Barton Fink betätigt sie, kein Mensch ist zu sehen. Der Klang hallt nach, er will gar nicht mehr aufhören. Dann taucht ein Hotelangestellter auf, von unten, durch eine Falltür im Fußboden. Er bringt die Klingel mit einem Finger zum Schweigen, dann mustert er den Gast und weiß sofort, daß der einer von der Sorte ist, dem er den Schuhputz- Service für Dauergäste anbieten wird. „A Day or a Lifetime“, eine andere Form des Aufenthaltes sieht der Werbespruch auf dem Briefpapier des Hotels außerhalb von Los Angeles nicht vor. Barton Fink ist angekommen — in seiner Hölle. Er weiß es nur noch nicht.

Was Barton Fink kann: schreiben. Was Barton Fink nicht kann: zuhören. Während die eine Gabe ihm Erfolg bringt, bereitet ihm die andere Qualen, denn mit seinem untrüglichen Geschick, genau dann geistig abwesend zu sein, wenn jemand erzählt, läßt er sich eine nie versiegende Quelle für Geschichten entgehen — die Wirklichkeit. Barton Fink ist davon überzeugt, daß die Idee für einen Stoff aus seinem Innern kommt und den Weg aufs Papier nur unter Schmerzen findet. Nachdem er mit einem sozial engagierten Boulevardstück über die einfachen Leute — Fischhändler, Prostituierte, Bettler— am Broadway berühmt geworden ist, verpflichtet ihn ein Filmmogul zu einem Drehbuch für Hollywood. Der Produzent setzt auf das Barton-Fink-Gefühl. Aber selbst in der Abgeschiedenheit des Hotels will dem der rechte Gedanke nicht kommen. Eine Schreibblockade befällt ihn.

Die Qualen des Schreibens, die schwierige Entstehung eines Drehbuchs nimmt das amerikanische Brüderpaar Joel und Ethan Coen zum Vorwand für eine ironische Geschichte über das Verhältnis von Sein und Schein, von Wahrheit und Selbstbetrug. Wobei am Anfang zunächst die Agonie der Schreibhemmung steht. Doch dann lernt Barton (John Turturro) seinen bulligen Zimmernachbarn (John Goodman) kennen, einen jener Underdogs, für den der junge Schriftsteller zu schreiben glaubt, und gewinnt in ihm einen Freund. Charlie kann er sich anvertrauen, Charlie ist die Tür, die er nur aufmachen muß, um seiner Isolation zu entkommen. Aber Barton Fink will immer nur ein Echo seiner Stimme hören. „Geschichten hätt' ich, haarsträubende“, sagt der fette Mann von nebenan mehrmals. Aber Barton Fink will sie nicht hören.

Der Film spielt in abgeschlossenen Räumen, selbst die wenigen Außeneinstellungen geben den Blick nicht frei, sondern verstellen ihn. Die Kamerafahrt auf das Art-Deco- Muster der Tapete, dahinter ahnt man andere Räume jenseits der klaustrophobischen Enge des Hotelzimmers. Doch es bleibt nur ein Versprechen. Niemals lösen Joel und Ethan Coen eine Szene auf, die andere Seite zeigen sie nie. Die Tür zum Zimmer des Nachbarn bleibt verschlossen, der Tobsuchtsanfall eines berühmten Hollywood-Autors spielt sich nur akustisch ab. Der Zuschauer bleibt draußen, steht mit Barton Fink vor der Tür und darf zuhören. Der Film lehrt uns, die längst bekannten Dinge des Kinos neu zu sehen, indem er nichts zeigt. Er erzählt nicht, was passiert ist, sondern stellt die Frage: Was ist passiert? Die Antwort darauf ist nie eindeutig. Die Frauenleiche auf dem Bett von Barton Fink, eine flüchtige Freundin, die er in der Nacht noch geliebt hat, wer hat sie umgebracht? War es Barton Fink oder sein Freund Charlie, der eigentlich Karl Mundt heißt und ein gesuchter Massenmörder ist? Der Film spielt in der Zwischenwelt von Illusion und Realität, ein Inferno des Zweifels, aus dem es kein Entkommen gibt.

Ethan und Joel Coen sind die jungen Wilden des amerikanischen Kinos. Wild deshalb, weil sie unter den ersten Regisseuren waren, die sich um die Regeln eines Genres wenig scherten und einfach alles vermischten — Horror und Humor, Entzücken und Entsetzen. Mit Blood Simple schufen sie einen düsteren Psycho- Thriller, der seine Spannung aus den Erfahrungen der beiden mit Low- Budget-Horrorfilmen bezog. Arizona Junior, die abgedrehte Komödie über eine Kindesentführung, bildete ein eher verspieltes Intermezzo, bevor sich die Coen-Brüder mit Miller's Crossing endgültig etablieren konnten. Für Barton Fink erhielten sie in diesem Jahr die „Goldene Palme“ und den Regiepreis der Filmfestspiele in Cannes.

Am Ende hat Barton Fink das Zuhören gelernt, nur will ihm jetzt niemand mehr zuhören. Schlimmer noch, der Studioboß behält ihn weiter unter Vertrag und droht, jedes seiner Drehbücher in den Archiven der Filmgesellschaft vermodern zu lassen. Ein Autor hat seine Stimme wiedergefunden, weil er vom Leben lernte. Aber das interessiert Hollywood nicht. Dort will niemand wissen, wie die Wirklichkeit ist, und ebensowenig von der phantasiereichen Illusion, die sich von der Wirklichkeit nährt. In Hollywood zählt nur eines: das Recycling des Erfolges. Daß die Coen-Brüder dieses Prinzip mit viel Biß und Witz entlarven, ist der einzige Fixpunkt des Films. Der Rest bleibt ein Angriff auf die Sinne, weil nichts ist, wie es ist.

Joel und Ethan Coen: Barton Fink, mit John Turturro, John Goodman, Kudy Davis, USA 1991, 116 Min.