Sommer 91: Rekord im Fahrradklau

■ 22.300 Prachtesel verschwanden in diesem Jahr in Berlin wie von Geisterhand/ Die Dunkelziffer ist noch viel höher

Berlin. Klein Fritzchen wußte genau, daß er sein Mountain-Bike nachts nicht draußen im Fahrradständer lassen sollte, auch wenn es dort angeschlossen war. Doch der Weg in den Keller des Mietshauses im Bezirk Tiergarten ist gerade kurz vor dem Schlafengehen wegen der zu überwindenden Stahltüren sehr mühselig. Also blieb das Rad nachts draußen, bis es eines Morgens verschwunden war. 14 Tage später stand das Stahlroß plötzlich wieder im Hauseingang. Es war mit zwei dicken Schlössern an die Heizung gekettet und mit einem neuen Anstrich versehen, doch der zehnjährige Fritz erkannte es mit einem Blick. Opa wußte Rat. Er schloß das Rad mit einer dritten Kette an der Heizung an und legte sich mit seinem Enkel auf die Lauer.

Wenig später tauchte ein Mieter auf und machte sich mit einem Schlüsselbund an dem Corpus delicti zu schaffen. Von Opa und Fritz zur Rede gestellt, behauptete er dreist, das Rad vor kurzem in Spandau von einem Freund gekauft zu haben. Erst als Opa mit der Polizei drohte, gab der Mann klein bei: Fritzchen hatte sein Mountain-Bike wieder.

In der Zeit zwischen Januar und September wurden in Berlin 22.300 Fahrraddiebstähle bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres waren es 15.000. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher: viele Fahrradbesitzer versprechen sich von einer Anzeige nichts, vor allem wenn das Rad nicht versichert oder schon sehr alt war. Hauptsaison für den Räderklau ist der Sommer, doch auch im Frühjahr und einem so warmen Herbst wie dem jetzigen sind die guten Stücke nicht sicher. Die Spitzenreiter sind die Bezirke Neukölln, Treptow, Köpenick und Tempelhof. Doch auch in Charlottenburg, Moabit und Tiergarten scheinen die Räder Flügel zu haben. Der größte Schwund wird an Rädersammelpunkten wie U- Bahnhöfen, Unis, Schwimmbädern, Schulen und Bibliotheken verzeichnet. Am hellichten Tag überwinden die Diebe zwei Meter neben arglosen Passanten mit einem Bolzenschneider mühelos die Ketten und Seilschlösser, schwingen sich aufs Rad und sausen davon. An verdeckten Orten, wie Hinterhöfen, Kellern und Hausfluren, wird noch mehr geklaut. Begehrt sind natürlich besonders neuwertige, teure Stahlrösser, die verkauft werden können. Aber auch alte Schrottesel sind vor den Langfingern nicht sicher. Sie sind allemal gut genug für einen Quicki ins Grüne, und landen spätestens dann, wenn der Reifen platt ist, irgendwo im Gebüsch. Ein Happy-End wie im Fall von Klein Fritzchen ist absolute Ausnahme. Meist verschwinden die teuren umweltfreundlichen Gefährte auf Nimmerwiedersehen. Die Aufklärungsquote, die im vergangenen Jahr bei acht Prozent lag und in diesem auf vier Prozent absackte, ist verschwindend gering.

Eine Fotoredakteurin traf am hellichten Tag der Schlag, als sie sich nach dem taz-Plenum vor dem Haus der Kulturen auf ihr Rad schwingen wollte. Das fast neuwertige Rad, das inmitten vieler anderer im Fahrradständer angeschlossen war, schien wie vom Erdboden verschluckt. Die schlimme Vorahnung wurde zur finsteren Gewißheit, als sich die mehrere Millimeter starke Kette fand, die sich vor einem leeren Ständer wie eine enthauptete Schlange auf dem Boden kringelte. Der Dieb hatte sich offensichtlich nur gebückt, so getan, als ob er das Schloß aufschließe, und dann unauffällig den Bolzenschneider gezückt.

Die 200 Fahrradkuriere von »Messenger« beklagen jede Woche mindestens zwei Verluste durch Diebeshand. Selbst huckepack in die Treppenhäuser geschleppte Bikes verschwinden in dem Moment, wo die Post abgegeben wird, wie von Geisterhand. Die Diebe beweisen dabei einen Blick für gute Qualität: die stabilen Untersätze, auf denen sich die fliegenden Boten bis zu acht Stunden am Tag durch die verstopften Straßen kämpfen, kosten zwischen 2.000 und 5.000 Mark. Auch wenn die Drahtesel sämtlichst versichert sind, schmerzt der Verlust des eingefahrenen Arbeitsmittels sehr. Um die Attraktivität zu schmälern, trimmen die Messengers ihre teuren Markenräder inzwischen durch den Anbau anderer Lenker auf alt.

Die Gründe für den steigenden Diebstahl sind für Polizeisprecher Andreas Grabinski völlig klar: die Tendenz zu immer teureren Rädern, die leicht zu klauen sind, weil es keine hundertprozentige Sicherung gibt. »Niemand würde auf die Idee kommen, nachts eine Geldkassette mit tausend Mark an eine Straßenlaterne zu ketten«, meint Grabinski. Viele der Diebe seien vermutlich Suchtkranke, die sich mit dem Verkauf der Hehlerware Heroin- , Tabletten und Alkokolnachschub besorgten. Den Anteil von Jugendlichen und Kindern, sich auf diesem Weg ein eigenes Rad organisierten, hält der Polizeisprecher für gering. Von etwaigen organisierten Schieberringen, die die hochklassigen Gefährte ins Um- oder Ausland verfrachteten, sei der Polizei bislang nichts bekannt.

Die meisten geklauten Räder werden laut Grabinski in der Stadt, zum Beispiel am Bahnhof Zoo oder vor U- Bahnhöfen, zu Spottpreisen verhökert, die jeden Käufer mißtrauisch machen müßten. Die Polizei sei hier jedoch auf Tips angewiesen, um tätig werden zu können. Daß ein Dieb auf frischer Tat ertappt wird, komme nur äußerst selten vor. »Wenn jemand nachts mit zwei Rädern und einem Bolzenschneider unterwegs ist«, so Grabinski, »ist das natürlich unser Mann.« Einen weiteren Grund für die drastische Zunahme des Räderklaus sieht ein Mitarbeiter der Fahrradversicherung »Rafadi« in dem Umstand, daß die Diebe von Autoradios auf Räder umgesattelt sind, denn: »Immer mehr Autoradios sind durch einen Code unbrauchbar, wenn sie ausgebaut werden.« Fahrräder seien fast noch schneller und somit gefahrloser zu klauen.

Die einzige Möglichkeit, sich vor den Langfingern zu schützen, ist, das Rad mit in die Wohnung oder Firma zu nehmen. Um den Verbleib auf der Straße, Hinterhöfen, Kellern und Hausfluren noch halbwegs zu gewährleisten, empfehlen Polizei und Fachgeschäften nur noch hart gestählte Bügelschlösser, die aber mit 80 bis 120 Mark für manche schon doppelt so teuer sind wie das ganze Rad. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Profis knacken auch das Bügelschloß. Eine Abhilfe durch die Fahrradindustrie ist nicht in Sicht. Es gibt zwar schon Techniken, mit denen die Räder vollständig blockiert werden können, aber solange das Gefährt noch weggtragen werden kann, schützen auch diese nicht. Das unknackbare Schloß, mit dem es an einen Baum oder Zaun gekettet werden kann, muß erst noch erfunden werden. Aber selbst dann bliebe immer noch das Problem, welches Teil einem das liebste ist. »Wenn man die Räder anschließt, klauen sie den Rahmen. Wenn man den Rahmen anschließt, sind die Räder weg«, bringt Polizeisprecher Grabinski die Misere auf den Punkt. Plutonia Plarre