: Aus dem Schlamm ins Fürstentum
■ Gespräch mit dem Regisseur der „Roten Hochzeiten“, Anatolij Novikow über Oben, Unten und Theater
taz : Bei dem Stück von Majakowski könnte man den Eindruck haben: In dem Land ändert sich nie was,...
Anatolij Novikow: Bravo!
...erst kommt immer die revolutionäre Phase und dann kommt die Phase, wo die Leute reich werden wollen, egal ob in den 20er Jahren oder bei der Perestroika. Ist das so?
Früher waren die Hochzeiten in der Kirche, und es war schön und feierlich. Danach, nachdem die Kirche geschlossen wurde, haben wir kommunistische, Rote, Arbeits- und Kolchoshochzeiten entdeckt, und es hat sich herausgestellt: je weniger Kultur der Mensch hat, desto mehr will er sich zeigen, d.h. er will aus dem Schlamm in das Fürstentum. Unsere Hochzeiten sind eine Tragödie, es ist ein Wettbewerb zwischen den Leuten, wer kann am meisten Geld investieren? Wir haben das Stück aufgeführt, damit solche Hochzeiten weniger werden. Ob Breshnew oder Perestroika, die Hochzeiten sind gleich schlecht.
Heißt das, die Perestroikazeit bedeutet keinen Fortschritt?
So einer charmanten Frau muß ich sagen, daß die Perestroika sehr viel für uns bedeutet. Aber eine Gesellschaft, die die Moral seit 73 Jahren vergewaltigt, muß sich lange wieder erholen. Ich glaube nicht an Losungen. Alles kommt von der Kultur.
Was hat die Perestroika an Ihrem Theater geändert?
Viel. Es gibt keine Zensur mehr. Unsere Theater haben das Recht heute, dorthin zu fahren, wohin wir fahren möchten. Sie dürfen auch Geld verdienen. Aber die Hauptsache ist: Wenn wir jemand von den Schauspielern nicht gebrauchen können, können wir ihn jetzt freilassen. Früher konnte man nicht entlassen, und der Schauspieler konnte bis zum Tode auf der Bühne spielen. Und heute können wir dem Schauspieler das Gehalt anbieten, das wir für richtig halten.
Hier unsere erste Schauspielerin (deutet auf die Frau neben sich) arbeitet schon seit 18 Jahren bei uns. Es gibt Schauspieler, die schon seit 30 Jahren arbeiten. Und es gibt jetzt Schauspieler, die ein, zwei Jahren arbeiten und dann gehen. Der Schauspieler bekommt auch eine Wohnung, solange er einen Vertrag hat.
Was ist eine „Erste Schauspielerin“
Das ist die Prima. Sie bekommt das größte Gehalt, und sie spielt die größten Rollen. Sie spielt z.B. Katharina II und das ganze Tschechow-Repertoire.
Was kommt nach der Ersten ?
Die Zweite, Dritte, Vierte, Fünfte Schauspielerin. In dieser Hinsicht haben wir keine Demokratie. Bei den Technikern ist es genauso.
Wenn ich mich als Dritte bewerben würde und hätte bis jetzt nur als Zehnte gespielt, würden Sie mich einstellen?
Wir werden alles tun, um Sie nicht zu nehmen. Und wir werden das höflich machen.
Dumme Frage zum zweiten Stück: Wer ist Lifschitz?
Es ist die Zeit der Prozesse, 1935 bis 1937, die Gesellschaft zittert vor einem, der von draußen rein will und alle sind erschüttert von seiner Größe. Dann kommt er am Ende herein und ist ganz klein, wie damals Jesow.
Vor welchem kleinen Großen zittern die Leute heute?
Die Gesellschaft, die nicht als Rechts-, sondern als Gewaltstaat gebaut ist, ist eine falsche Gesellschaft, egal, von wem die Gewalt ausgeht. Man hat kein Recht, in jedes Haus einzudringen. Und leider gibt es heute, während der Perestroika, keinen Rechtsstaat. Deshalb war der Putsch im August kein Zufall. Es gibt viele Verbesserungen. Sogar der KGB wird geschlossen. Aber die Gesetze sind noch nicht in Kraft getreten. Uta Stolle
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