Die Beichte

Was passiert, wenn eine junge Frau im Kölner Dom einem Priester bekennt: Ich habe abgetrieben  ■ VON CORNELIA FILTER

Daß es ihr so schwer fallen würde, hätte sie nie gedacht. Das hatte sie doch alles längst verarbeitet, intensiv geprüft, als groben Unfug zu den Akten gelegt. Ein für allemal.

Und doch. Plötzlich konnte sie gar nicht mehr so unbeschwert an ihren Plan herangehen. Immer wieder schob sie ihn mit neuen Gründen auf. Und dann stiegen all die alten Bilder wieder in ihr hoch. Sie als Neunjährige in der katholischen Volksschule. Eine reine Mädchenklasse. 50 erwartungsvoll gespannte Schülerinnen freuen sich auf den Beichtunterricht mit Vikar Lummer. Er verteilt den Kinderbeichtspiegel. Der kleine Ratgeber für die Gewissenserforschung, der die Fragen, die wir uns zu stellen haben, so griffig formuliert: „Hast du gelogen, genascht, gepetzt, geflucht, jemanden verletzt, geschlagen? Warst du faul? Oder warst du etwa ungehorsam? Hast du Widerworte gegeben? Wenn ja, wie oft?“

All die Sünden mußte sie fein säuberlich auflisten und nach den zehn Geboten sortiert auf einen Zettel schreiben. Wenn man so jung ist, ist man mit den Sünden noch nicht so vertraut, daß man sie sich ohne Gedächtnisstütze merken könnte. Kurz vor der Beichte, meist auf dem Weg dorthin, lernte sie ihre Vergehen auswendig: „Ich habe fünfmal genascht ... Oder war es sechsmal? Ich war unmäßig in Essen und Trinken. Ich war eitel, mindestens zehnmal...“

Später dann, als sie bereits ohne Zettel auskam, machten ihr ganz andere Fragen zu schaffen: „Hast du unanständige Wörter benutzt, Reden geführt oder ihnen zugehört? Hast du unschamhafte Bilder betrachtet, allein oder mit anderen? Hast du dich selbst unschamhaft betrachtet oder berührt?“

Mit vierzehn hörte sie auf zu beichten. Fünf bittere, lange Jahre hatte sie sich an jedem ersten Samstag im Monat auf den Weg zur Pfarrkirche gemacht. Mit zugeschnürter Kehle, von Schuldgefühlen geplagt und von der Angst besessen, eine oder gar mehrere Sünden vergessen zu haben und am anderen Morgen im befleckten Zustand den Leib Christi empfangen zu müssen.

Fünf lange Jahre einmal im Monat in dem düsteren Ungetüm knien. Vor ihr in Augenhöhe ein kleines Rechteck, darin ein Gitter aus Holz und dahinter schemenhaft ein Gesicht. Ein Männergesicht. Und der murmelnde Singsang einer Stimme. Eine zwar eindeutig maskuline Stimme, die aber dennoch geschlechtslos wirkte — eben klerikal. All diese verdrängte Sexualität, die zwischen Weihrauch, Kutten und Monstranzen nach Fluchtwegen suchte.

Fünf Jahre lang einmal im Monat angstvoll darauf warten, daß aus dem Innern des Beichtstuhls das ersehnte „Ego te absolvo“ ertönte, gefolgt von dem „Gelobt sei Jesus Christus“. Aber dann sprach sich das „In Ewigkeit, Amen“ wie „Mutti, ich habe eine Eins im Diktat!“ Nur noch schnell die Buße, drei „Vater unser“ und zwei „Gegrüßet seiest du, Maria“. Endlich vorbei. Hinaus in den hellen Tag. Die Beine hüpften und die Seele auch.

Über 20 Jahre ist das her und trotzdem kommt es ihr vor, als sei es gestern gewesen. Nichts hat sich verändert. In ihrem Magen wiegt ein Wackerstein schwer. Ihr Herz klopft heftig und die Hände sind feucht. Der mächtige Kölner Dom dräut schon von Ferne, schwarz und gewaltig. Klein und erbärmlich fühlt sie sich. Dabei will sie eine Sünde gestehen, die sie gar nicht begangen hat, eine Sünde, auf die eigentlich die Exkommunizierung folgt: „Ich habe abgetrieben“, will sie beichten.

In der riesigen Kathedrale kommt sie sich ganz verloren vor. „Wohin wollen Sie?“ fragt sie ein rotgewandeter Messner, der den Durchgang zum Seitenschiff bewacht. Er scheint ungehalten. „Ich will beichten“, sagt sie. „Kapelle zwei“, entgegnet er schon etwas freundlicher. Frauen ihres Alters sieht er hier wahrscheinlich nicht oft. In der Mitte von „Kapelle zwei“ liegt, lang hingestreckt, ein überlebensgroßer Bischof — ein Grab. Rechts daneben Arme-Sünder-Bänke, auf denen zwei alte Frauen knien. Links dahinter steht der Beichtstuhl, aus dem der monotone Singsang klingt, den sie von früher so gut kennt. Eine Frau beichtet gerade, das erkennt sie an den Füßen, die aus dem hölzernen Gehäuse ragen.

Eine zu schwerwiegende Sünde für die Absolution

Das Licht geht an. Nun ist sie an der Reihe. Kaum hat sie sich hingekniet, verlöscht die Lampe wieder. Der Mann hinter dem Gitter sieht sie nicht. Seine Stimme klingt alterslos. Er segnet sie und sofort fällt ihr das längst vergessen geglaubte Sprüchlien wieder ein, das sie eigentlich jetzt hersagen müßte: „In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden.“ Statt dessen erklärt sie: „Ich habe schon sehr lange nicht mehr gebeichtet. Trotzdem bin ich eine gläubige Katholikin, und ich bin gekommen, weil mich etwas ganz besonders quält: Ich habe abgetrieben, denn ich bin ganz allein und habe nicht die Kraft, ein Kind großzuziehen. Und nun habe ich Angst, eine Mörderin zu sein, genauso schuldig wie die Mörder von Auschwitz, wie der Papst sagt.“

Schweigen hinter dem Gitter. Ratlosigkeit. Möglicherweise denkt er: „Mein Gott, muß sie das beichten! Ist das denn nötig?“ Nein, das ist es nicht, und sie ist sich sicher, daß es kaum eine Frau tut, und sei sie noch so überzeugte Katholikin. Aber dieser Priester hier ist nun gezwungen, seine Pflicht zu tun, und das scheint ihm schwerzufallen.

Er räuspert sich und sagt: „Das ist eine schwerwiegende Sünde, für die ich Ihnen die Absolution nicht erteilen kann. Eigentlich müßte ich Sie jetzt zu... — es folgt ein lateinischer Name, den sie nicht versteht — schicken. Sie können aber auch bei mir eine Lebensbeichte ablegen. Sie überdenken Ihr ganzes Leben noch einmal, und wenn Sie Schuld auf sich geladen haben, bekennen Sie mir diese Schuld. Wenn sie nicht zu groß ist, werden Sie die Absolution bekommen.“ — „Es ist vielleicht besser“, fährt er fort, „wenn Sie zu Hause in Ruhe darüber nachdenken. Übermorgen zwischen sieben und neun Uhr bin ich wieder hier. Dann kommen Sie noch einmal her.“

Sie verläßt den Dom und ist zutiefst getroffen. Unbewußt hat sie fest damit gerechnet, daß ihr verziehen würde. Zwei Tage lang geht es ihr schlecht, dennoch will sie sich auf die Lebensbeichte einlassen. Sie legt sich eine Biographie zurecht, ausgefeilt bis ins Detail, und lernt sie auswenig wie früher ihr Sündenregister. Der gesichtslose Mann mit der alterslosen Stimme hat sie nicht vergessen. Er sagt, daß es das Beste sei, wenn sie einfach ihre Lebensgeschichte erzähle. Sie faßt sich kurz, draußen knien drei alte Frauen, die ebenfalls beichten möchten. „Wenn er Genaues wissen will, kann er ja fragen“, denkt sie. Aber er fragt nicht. Dabei schont sie ihn nicht. Von der Pille über häufig wechselnde Männerbekanntschaften bis zu einer wilden Ehe — sie läßt nichts aus. Allerdings betont sie am Ende ihres Geständnisses, daß sie nach Jahren des Zweifels wieder eine gläubige Christin geworden sei.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Als sie geendet hat, erinnert der gesichtslose Mann an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der vom Vater mit Freuden wieder aufgenommen wird, ohne nach seiner Vergangenheit gefragt zu werden. „Auch Jesus fragt nicht“, sagt der Mann hinter dem Gitter, „er verzeiht, ohne zu fragen, wenn ein Mensch Reue zeigt. Deswegen wird auch Dir verziehen.“ Nach dem „Ego te absolvo“ bedankt sie sich, und er wünscht ihr viel Glück. Eine Buße gibt er ihr nicht mit auf den Weg.

Sie steht wieder draußen vor dem Dom. Die Lebensbeichte hat nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Sie ist gerührt und fassungslos und unglaublich erleichtert. Ihr ist vergeben worden!

Doch halt! Warum hat er ihr nicht schon beim ersten Mal verziehen. Warum hat er sie zwei lange Tage schmoren lassen. Natürlich — der alte Trick. Je stärker der Schmerz, desto intensiver das wunderbare Gefühl, die Dankbarkeit, wenn er nachläßt. Der gesichtslose Mann hinter dem Gitter hat sie zwar freundlich behandelt und Verständnis für ihre Lage gezeigt. Er hat sie behandelt wie ein gütiger Vater seinen verlorenen Sohn. Aber sie ist kein Sohn, sie ist eine Tochter, und Frauen hat die katholische Kirche noch nie liebevoll behandelt.

Als ob sie das nicht alles schon lange wüßte. Genau deswegen hat sie doch mit dem Klerus nichts mehr zu schaffen. Weshalb aber liegt schon wieder ein Wackerstein in ihrem Magen? Und warum stehen ihr die Schuldgefühle bis zum Hals?

Weil dieser Text eine Sünde ist, für die sie wohl kaum Vergebung finden wird. Und das ist gut so.