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KOMMENTARENicht gänzlich erblindet

■ Das Urteil im Messerstecherprozeß ist ein kleines Signal

Die Justiz ist — zum Glück — nicht allmächtig, und ein Richterspruch kann nicht gesellschaftliche Konfrontationen schlichten, für die verantwortungslose Politiker Tag für Tag neue Lunte legen. Aber ein Gericht kann in bescheidenem Rahmen Entwicklungen gerade rücken, die aus dem Gleis geraten sind. Auch wenn das Berliner Landgericht das Verfahren gegen Ayhan Ö. in manchmal ärgerlich unpolitischer Weise geführt hat, hat es mit dem gestrigen Freispruch dennoch politische Botschaften ausgesandt. Die wohl wichtigste heißt: Wer Ausländer mit rechtsradikalen Parolen anpöbelt und angreift, kann — sofern er erwischt wird — nicht mit augenzwinkender Billigung der Justiz rechnen. Niemand ist darüber hinaus verpflichtet, rechtsradikale Großmannssucht und Drohungen demütig kuschend über sich ergehen zu lassen. Es gibt ein Recht auf Würde und Gegenwehr gegen rassistische Angriffe. Ob diese Botschaft in die Köpfe derjenigen hineingeht, die es angeht, ist mehr als fraglich. Bei der ausländischen Bevölkerung wird dieses Urteil sehr wohl als kleines Zeichen dafür aufgenommen werden, daß die deutschen Behörden und die Justiz auf den rechten Auge nicht gänzlich erblindet sind. Es wäre allerdings auch fatal und selbstzerstörerisch, wenn ausländische Jugendliche oder selbsternannte »Fascho-Jäger« dieses Urteil als Freibrief für jegliche Art von Gegengewalt verstehen. Wo Ayhan Ö. in Notwehr gehandelt hat, und dabei — das sollte über den Freispruch nicht vergessen werden — immerhin einen Menschen getötet hat, kann schon die nächste Konfrontation im Knast enden. Die Tendenz, auch schon kleinste Auseinandersetzungen gewaltsam zu lösen, ist bei vielen ausländischen Jugendlichen nicht zu übersehen. Die notwendige Selbstverteidigung gegen Skins und »Glatzen« muß dabei nur allzuhäufig als politische Legitimation für das herhalten, was nichts anderes ist als männliche Waffengeilheit und Kraftprotzerei. Vera Gaserow

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