Mauerprozeß versackt in den Mühlen der Moabiter Justiz

Berlin (taz) — Enttäuschung machte sich breit am zwölften Prozeßtag um den Tod von Chris Gueffroy. Gekommen waren sie alle, aber mißmutig zogen die Journalisten mittags schon wieder ab. Die meisten hatten gestern gehofft, daß die Verteidiger der vier angeklagten ehemaligen Grenzsoldaten mit ihren Plädoyers beginnen können. Rechtsanwalt Rolf Bossi hatte noch bis zum frühen Mittwoch morgen an seinem Plädoyer für Andreas Kühnpast gefeilt. Die Hoffnung trog. Der Vorsitzende Richter, Theodor Seidel, hält es für angebracht, den früheren Stasi-General Gerhard Neiber, der als Stellvertreter des Stasi-Chefs Erich Mielke für die Nationale Volksarmee und für Grenztruppen zuständig war, anzuhören.

Darüber hinaus sollen zwei Zeugen geladen werden, die 1969 im Militärgefängnis Schwedt eingesessen haben. Seidel berichtete zur Verblüffung der Verteidigung, einer der beiden habe bei ihm, Seidel, vor zwei Tagen abends angerufen und gesagt, die Haft in diesem Gefängnis sei längst nicht so schlimm gewesen, wie in der Presse dargestellt. Die vier Angeklagten hatten ausgesagt, das Militärgefängnis sei unter Grenzsoldaten gefürchtet gewesen. Andrea Würdinger, Verteidigerin von Ingo Heinrich, reagierte mit schneidender Stimme: „So muß man es also machen: man ruft abends bei Ihnen an, und schon wird man als Zeuge geladen. Dann können wir uns ja all die Beweisanträge, die wir stellen, schenken.“

Das Gericht will außerdem ein weiteres Sachverständigen-Gutachten einholen lassen, das über die Treffgenauigkeit von sowjetischen Maschinengewehren des Typs Kalaschnikow Auskunft geben soll, mit denen drei der vier Angeklagten in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 auf die Flüchtenden Chris Gueffroy und Christian Gaudian geschossen hatten.

Mit dem von allen Beteiligten schon erhofften schnellen Ende des Prozesses rechnet kaum noch jemand. Seidel sagte gestern: „Im November werden wir wieder — wie gehabt — montags und mittwochs ab 9Uhr verhandeln.“ itz