: Die ganz große Ausstellung...
■ ...oder Halbzeit bei Rembrandt mit freigelassenen Schülern
Früh um halb neun bevölkern feixende Schulklassen im Gefolge kunstsinniger Lehrer die große Treppe, die vom Berliner Lustgarten in die ehrwürdigen Hallen des Alten Museums führt. Sie warten darauf, daß die ganz große Kunstausstellung ihre Pforten öffnet, jener kunstbeflissene Stadtmarathon im Schneckentempo, der regelmäßig zwischen wechselnden Werken durchgeführt wird. Zur Zeit muß ein gewisser Rembrandt Spalier stehen, von dem alle wissen, daß er die Strecke mindestens so schön ziert wie Vincent van Gogh.
Ob das klassenweise Durchwandern der ganz großen Kunstausstellung die Kunstliebe des Nachwuchses fördert, wie es sich die Pädagogen wünschen? Ich habe da meine Zweifel. Mir geht die aufgezwungene Emilia Galotti nicht aus dem Kopf, die mir den liebenswürdigen Lessing auf Jahre vermieste. Und die Kids an die hohe Kunst heranzuführen, gibt es wirklich geeignetere Orte als die Rembrandtausstellung. Kunstliebe entsteht ja nicht aus der Quantität der Meisterwerke, mit denen jemand konfrontiert wird, sondern aus der intensiven Begegnung mit dem einen oder anderen Werk. Im ruhigen Normalbetrieb der Staatlichen Museen ist Kunsterfahrung möglich, inmitten des Menschenauflaufs im Alten Museum jedoch so gut wie ausgeschlossen.
Es hilft also nichts, früh aufzustehen, in der Hoffnung, vielleicht vor den anderen zu den Kunstwerken durchzudringen; die stillen werktäglichen Morgenstunden, die man aus den Staatlichen Museen kennt, gibt es bei der ganz großen Kunstausstellung nicht.
Da hilft auch kein Tricksen, etwa die Strategie, die Ausstellung von hinten aufzurollen, also mit Rembrandts Radierungen anzufangen. Schon umgibt einen ein Haufen freigelassener Schüler, nicht uninteressiert, aber offenbar überfordert. Vor zwei sehr ähnlichen Blättern streiten sie sich laut, welches das Original sei und welches die Fälschung, welches von Meisterhand stamme und welches aus Rembrandts Werkstatt, denn von den echten und falschen Rembrandts haben sie schon gehört. Es handelt sich ganz einfach um zwei Auszüge von einer einzigen, zwischenzeitlich überarbeiteten Platte. Ihnen vorweg zu erklären, was eine Radierung überhaupt ist, ist ihrem wohlmeinenden Pädagogen nicht eingefallen.
An der Ausstellung selbst gibt es nichts zu mäkeln. Sie ist nicht überdimensioniert, die kostbaren Werke sind weiträumig gehängt und diskret gesichert. Rembrandts aus Marzipan und die Cousine al la Saskia sind uns diesmal erspart geblieben.
Sabotiert wird das Ausstellungskonzept allein durch das Publikum. Die einzelnen Besucher mögen sich noch so zivilisiert verhalten, einander so leise und höflich Platz machen — alle zusammen sind ein penetranter Störfaktor, der die Wahrnehmung der Bilder als Kunstwerke unmöglich macht.
Gerade weil sie so gut organisiert ist, zeigt die Rembrandtschau, daß die ganz große mit viel Medienaufwand künstlich bevölkerte Ausstellung immer ein ganz großer Betrug sein wird. Denn sie läßt keine konzentrierte Wahrnehmung zu, sondern nur die zerstreute Rezeption inmitten der Menge. Damit vereitelt sie ihren eigentlichen Zweck, die Originale zu zeigen, die man sonst nur aus Reproduktionen kennt.
Was hat es eigentlich für einen Sinn, die Originale aus aller Welt an einen Ort zu schaffen, sie den Risiken der langen Reise auszusetzen, wenn man nicht in der Lage ist, auch eine angemessene Rezeptionssituation herzustellen? Um in einen Rembrandt einzudringen, das Bild zu überblicken, es zu fühlen, es zuerfahren, brauche ich Ruhe und Zeit,und die gesteht mir die ganz große Kunstausstellung nicht zu.
Bezeichnenderweise fehlt in den Ausstellungssälen jede Sitzgelegenheit. Sich hinzusetzen, eine Stunde oder einen Tag vor einem Bild zu verbringen, daran ist in der ganz großen Kunstausstellung nicht mehr gedacht. Sowenig wie an die Älteren, für die es eine Mühsal sein dürfte, jedesmal den Weg zu den Stühlen in den überfüllten Ruhezonen zurückzulegen, wenn sie sich vor einem Bilde müde gestanden haben. Eine schicke Cafeteria gibt es freilich auch, und die ist nicht mal überfülllt — weil man nämlich 5,50 Mark für einen simplen Durchhaltekaffee hinblättern muß.
Vor der Aura, die die Originale ihren technischen Reproduktionen voraushaben, ist in der ganz großen Kunstausstellung nicht viel zu spüren. Der Massenbetrieb zerstört die Aura genauso wie die Reproduktion. Mit dem Unterschied, daß Reproduktionen von Kunstwerken vom Betrachter in einer Weise betrachtet werden können, wie sie eigentlich den Originalen zukäme. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die teuren Kataloge, die die ganz großen Kunstausstellungen begleiten, so reißenden Absatz finden. Man sieht in ihnen mehr von den Kunstwerken als auf den Ausstellungen selbst.
Wie das Problem der Volksmassen, die zur Kunst drängen, gelöst werden soll, weiß ich nicht. Ich werde aber meinen ganz persönlichen Beitrag dazu leisten, indem ich auf den Besuch der nächsten ganz großen Kunstausstellung ganz gewiß verzichte. Michael Bienert
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