: Urteil gibt Mut, hier zu leben
■ Trägt der Freispruch für den türkischen Berliner, der in Notwehr in der S-Bahn einen »Republikaner« erstach, zur Befriedung der Stadt bei?
Hürriyet-Chefredakteur Yumusac: Das Gericht hat entschieden, und dieses ist zu akzeptieren. Und zwar von beiden Seiten. Das Urteil müssen jene anerkennen, die gegen Ausländer hetzen. Aber auch jene jungen ausländischen Berliner dürfen nun nicht glauben, sie könnten gegen Beleidigungen sofort mit Gewalt antworten.
Frauke Hoyer, Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats: Rechtsradikale werden mit dem Urteil absolut nicht einverstanden sein. Und die machen ja ständig deutlich, daß es ihnen letztendlich nicht wichtig ist, was die Folgen ihrer Gewalt sind, auch wenn es Mord ist. Für Ausländer kann es deshalb weiterhin Notwehrsituationen geben, wo sie gezwungen sind, sich zu wehren, ohne die Folgen übersehen zu können. Ich befürchte weitere Gewalttätigkeiten, weil sich die Politiker zuwenig dagegengestellt haben. Das ermutigt Rechtsradikale.
Özcan Ertekin, Mitarbeiter des türkischen Elternvereins und Vorsitzender des Vereins sozialdemokratischer Einwanderer:
Ich finde das Urteil sehr begrüßenswert. Es bedeutet, daß es hier unabhängige Gerichte gibt. Das Urteil gibt den Immigranten und Flüchtlingen Mut, in diesem Land weiter zu leben. Nach all den Angriffen auf Immigranten und Flüchtlingsheime zeigt dieses Urteil, daß es Institutionen gibt, die von diesem derzeit zu beobachtenden Rassismus nicht beeindruckt sind. Man kann nicht ausschließen, daß Rechtsradikale auf das Urteil mit noch mehr Gewalt reagieren. Bei den Immigranten kann ich dies nicht sagen. Es gibt für die Immigranten neben dem Urteil auch andere Ermutigungen. Dazu gehören die Reden von Bundespräsident von Weizsäcker oder auch von Bundestagspräsidentin Süssmuth. Dies kann in dieser Frage auch Bedeutung haben.
Pfarrer Quandt/Asyl in der Kirche:
Ich fürchte, egal, wie das Gericht entschieden hätte und nun hat, daß ein Urteil leider nicht dazu beitragen wird, die Gemüter zu beruhigen. Die Konsequenz kann aber nicht sein, daß solche Urteile nicht gefällt werden. In dieser Situation ist das natürlich ein Signal in Richtung unserer ausländischen Mitbürger. Es ist schlimm, daß so etwas passiert und auch schlimm, daß dabei ein Jugendlicher ums Leben gekommen ist. Und das ist auch eine Belastung, mit der der freigesprochene Jugendliche fertigwerden muß.
Alisa Fuss, Liga für Menschenrechte:
Wir begrüßen das Urteil als ein gutes Zeichen, daß man sich nicht jenen Kräften beugt, die gegen Ausländer hetzen. Das Urteil tritt jenen entegen, die sagen, es werde auf beiden Seiten zugestochen und deshalb seien beide Seiten gleich schuldig. Das ist natürlich nicht der Fall. Zur Befriedung beitragen? Es kann ein Zeichen setzen. Ich fürchte für das Leben des jungen Türken. Ich fürchte, daß man ihn nicht in Ruhe lassen wird. Auf keinen Fall aber wird das Urteil von Ausländern als Freibrief genommen werden, jetzt auf jeden Streit sofort mit Gewalt zu reagieren.
Carsten Pagel, ehemaliger Landesvorsitzender der »Republikaner« und Anwalt des Nebenklägers: Der Freispruch ist eine Botschaft an die gewaltbereiten Gruppen, sich zu bewaffnen und diese zu auch anzuwenden. Der Prozeß habe gezeigt, wie einfach man sich hinterher auf Notwehr berufen könne.
Eine kurdische Schülerin, die den Prozeß als Zuschauerin verfolgte: Das war eine Spitzenrichterin. Das Urteil ist absolut geil.
Ein Betreiber des Kopierladens M-99, Kontaktstelle für das Ayhan-Ö.-Komitee: Der Druck der Öffentlichkeit und die aktuelle ausländerfeindliche Stimmung hat das Gericht offensichtlich dazu bewogen, positiv für Ayhan Ö. zu stimmen. Umfrage: plu/gn
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