: Gods Own Country
■ USA: Lebensrecht weiter unter Gesetzesvorbehalt
Die aufklärerische Geburtsidee der Vereinigten Staaten von Amerika lautet: Alle Menschen sind gleich und jeder Mensch hat das Recht, seinem Glück in Freiheit, ohne dabei andere zu schädigen, nachzustreben. Die Kehrseite dieser Freiheit zeigt sich in einem gesellschaftlichen Atomismus, dem so gut wie alles auf die oftmals erstaunlichen Solidaritätsanstrengungen der bürgerlichen Gesellschaft ankommt. Entfällt diese freiwillige Solidarität der Bürger, steht kein Sozialstaat bereit, der in die Bresche springt. In den USA — wenn es überhaupt statthaft ist, über dieses Mittelding zwischen Bundesstaat und Staatenbund, das sich über einen ganzen Kontinent erstreckt, pauschal zu reden — drohte noch nie das Gehäuse der Hörigkeit, sondern entweder soziale Kälte oder die Tyranneien von Mehrheiten.
Der jüngste Beschluß des amerikanischen Repräsentantenhauses, die Todesstrafe auf Rauschgiftbosse auszudehnen, der skandalöse Umstand, daß in 36 Bundesstaaten die Todesstrafe verhängt werden kann, und die dort nach wie vor bestehende Bereitschaft, auch Jugendliche ab 16 als Abschluß eines Strafverfahrens zu töten, weist auf die Dialektik dieser aufklärerischen Staatsgründung hin.
In den USA genießen die Bürgerinnen und Bürger in Friedenszeiten kein verfassungsmäßiges Recht auf Leben. Im Unterschied zum Right of Privacy, zur Unverletzlichkeit der Wohnung, zum Anspruch, nach erfolgter Verhaftung sofort einen Anwalt zu kontaktieren, stellt das menschliche Leben keineswegs der Rechtsgüter Höchstes dar. Es steht — wie man hier so sagt — unter Gesetzesvorbehalt.
Der Einsatz von Armeen zu Zeiten des Krieges, also staatlich organisiertes Töten nach außen, entspricht dem Umstand, daß lange Zeit keine rechtssetzende Gewalt über den Staaten stand. Das staatliche Töten nach innen, die Todesstrafe, beglaubigt, daß sich der Staat nicht als rechtssetzende Gewalt über den Kräften der Gesellschaft, sondern als Teil einer Gesellschaft in Notwehr betrachtet.
Dieses vom heutigen Westeuropa unterschiedliche Staatsverständnis äußert sich in der verheerenden Armut der Slums in den großen Städten, in einem wachsenden Subproletariat, das in Drogenabhängigkeit versinkt, in einem verrottenden Bildungssystem, das hier wissenschaftliche Spitzenleistungen und dort immer mehr Analphabetismus produziert, in Rassismus, unbarmherzigem Konkurrieren aller möglichen Minderheiten gegeneinander, und nicht zuletzt einer allmählich nachlassenden Wirtschaftskraft.
Über mehr als 70 Jahre hinweg spielten die USA ihre Rolle als Platz- und Statthalter liberaler Lebensformen und Freiheiten mit mehr oder weniger Geschick und mehr oder weniger fatalen Nebenfolgen. Der Bogen reicht von der glücklichen Befreiung Europas von den Nationalsozialisten über den grausamen Krieg gegen das vietnamesische Volk, von der zynischen Unterstützung Pinochets gegen die sozialistische Volksfront bis zu Bushs deutlicher Einrede wider die Moskauer Putschisten.
Diese Rolle wird in einer nicht mehr gespaltenen Welt bald ausgespielt sein. Die USA, die prinzipiell einzige weltweite Garantin liberaler Freiheiten, erweist sich als Koloß auf tönernen Füßen. Ein Staat, der aus Hilflosigkeit vor dem Verbrechen beansprucht, eigene Bürger töten zu sollen, offenbart nicht nur einen zivilisatorischen Mangel, sondern auch fehlende nationale und internationale Integrationskraft. Ein Staat, der in Frieden eigene Bürger tötet, stellt kein Vorbild und keine Verheißung, noch nicht einmal ein einigermaßen probates Modell. Vielmehr ist er das Jammerbild einer zerfallenden Gesellschaft — der geholfen werden muß. Michael Brumlik
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