INTERVIEW
: „Autoritäre Regierungen waren nicht immer so schlecht“

■ Tatjana Kliatschko, Professorin am Wirtschaftsprognose-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Mitarbeiterin am Schatalin-Plan, zum neuen Wirtschaftsvertrag

taz: Hat der Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit, der jetzt zwischen den Republiken abgeschlossen werden soll, überhaupt eine Chance umgesetzt zu werden?

Kliatschko: Die sozialökonomischen Bedingungen müssen stabilisiert werden, und das kann letztlich nur eine massive Intervention westlichen Kapitals leisten. Um das Großkapital zu gewinnen, muß so ein Vertrag geschlossen werden. Er hat zunächst nur symbolische Bedeutung. Denn er würde demonstrieren: Wir wollen auf irgendeine Weise weiterhin miteinander zu tun haben und gemeinsam in Richtung Markt marschieren. Wird er nicht unterzeichnet, nimmt die Konfrontation noch zu: Wer ist schuld, wer fordert zu viel, wer gibt zu wenig. Überflüssige Konflikte, denn bisher haben wir uns gegenseitig ausgebeutet. Die Situation bliebe explosiv. Ohne Vertrag bleiben wir von der übrigen Welt isoliert. Früher wurde Isolation durch eine soziale Idee kompensiert. Das funktioniert nicht mehr. Sie würde heute durch Religion oder Nationalismus ersetzt. Die momentanen nationalen Motive offenbaren ihre Begrenztheit und selbst die Russische Föderation steht schon vor einer Zerreißprobe. Tatarstan und Tschetscheno-Inguschetien haben sich unabhängig erklärt. Eigentlich eine logische Konsequenz, die auf der anderen Seite aber Tendenzen befördert, das Land wieder abzuriegeln. Alles in allem ist die Situation historisch beispiellos, und die sozialen Verhältnisse zu Westeuropa unterscheiden sich kolossal. Daher läßt sich auch schlecht an Modernisierungsstrategien anknüpfen wie im Nachkriegsdeutschland oder in Japan. Mit Standardmethoden erreicht man bei uns nichts.

Sollten die Pläne scheitern ein einheitliches Bankwesen und eine gemeinsame Währung zu bewahren, muß sich das unbedingt nachteilig auf die einzelnen Regionen auswirken, oder könnte es nicht sogar von Vorteil sein?

In Rußland werden die Stimmen lauter, die nach einer Geldreform rufen. Die Ausgabe eigener Valuta ließe sich auch vor dem Volk rechtfertigen. Das hat aber nur Sinn, wenn dem sofort Infrastrukturmaßnahmen folgen. Das ist damit aber nicht gesagt. Die Reform kann sich als rein politische Maßnahme entpuppen, mit der die Republiken untereinander „spielen“. Außerdem birgt so eine Maßnahme noch eine zusätzliche Gefahr. Wer kommt damit zuerst heraus. Er trägt den Vorteil davon. Die Ukraine plant schon länger die Emission ihrer eigenen Währung. Der neue Vertrag sieht vor, daß, um Nachteile zu minimieren, die Einführung einer neuen Währung zwölf Monate im voraus angekündigt werden muß. Der Kampf um die Zentralbank liegt auf der gleichen Ebene. Da will man einfach die gegenseitigen Verpflichtungen runterschrauben. Ich finde aber keinen Hinweis, daß man sich über den nächsten notwendigen Schritt überhaupt Gedanken gemacht hätte. Zur Zeit wird alles von der Angst diktiert, daß die Union noch weiter auseinanderläuft. Doch wie werden wir die ganzen Widersprüche zwischen den Republiken lösen? Darüber wird in dem Vertragswerk nichts gesagt. Man stößt schnell an die Grenzen. Jawlinski, der ihn ausgearbeitet hat, sprach vor dem Obersten Sowjet von Sanktionen gegenüber Vertragsverletzern. Wer aber sollte darüber wachen?

Das hört sich sehr nach Ausweglosigkeit an...

Alle wollen auf ausländisches Kapital zurückgreifen. Gleichzeitig möchten sie aber unabhängig davon bleiben. Schon entstehen Überfremdungsängste. Dabei bleiben Privatisierungsversuche schon im Ansatz stecken, denn wer will Betriebe mit veralteter Technik kaufen? Ähnliches gilt auch für die Landwirtschaft. Dort sieht es noch schlimmer aus. Mit ihrer Ausstattung kann sie die Städte nicht ernähren. Da Geld für Technologie fehlt, müßten Städter wieder aufs Land ziehen. Wer will das? Wie kann man das organisieren?

Eine Reihe Intellektueller plädiert ja offen für eine autoritäre Herrschaft als Modernisierungsstrategie und begründet das mit der sozialen Mentalität, der ein Autoritarismus nicht widerspräche?

Auch auf die Gefahr hin, daß es zu einer Unterkühlung führt... Sobtschak und Popow in Petersburg und Moskau straffen gerade den Zugriff der Exekutive gegen den Protest der Stadtparlamente. Aber ohne weiterreichende Entscheidungsgewalt läßt sich nichts durchsetzen. Um dieses Land zu retten, muß man nüchtern bleiben. Wieder eine Utopie vorzugaukeln, als wäre Modernisierung mit normalen Mitteln möglich, halte ich für unverantwortlich. Ich bin sehr skeptisch gegenüber den ultrademokratischen Losungen bei uns. Die Ergebnisse autoritärer Regierungen waren nicht immer so schlecht. Was heißt unter unseren Bedingungen Demokratie? Auf Erfahrungen können wir nicht zurückgreifen. Es ist ein gefährliches Syndrom, daß 66 Prozent der Bevölkerung gegen ausländisches Kapital sind. Die Psychologie darf man nicht unterschätzen. Hier muß die Politik manövrieren. Die Angst vor einem Neokolonialismus ist weit verbreitet.

Ein politisches Zentrum, das koordinieren könnte, existiert nicht mehr. Und aus der Regierung Rußland hört man bisher auch nichts, was in Richtung Entwicklungsplanung liefe?

Eine Strategie, die alle diese Momente reflektierte, liegt nicht vor. Die Kompetenz fehlt und man spricht nicht über dasselbe, wenn von Wirtschaft die Rede ist. Am ehesten ließen sich neue parallele Strukturen aufbauen, wenn man auf alte Kräfte zurückgriffe. Sie mögen üble Leute gewesen sein, fürchterliche Bürokraten, die jetzt ihren Nutzen aus dem Wandel ziehen wollen. Aber ihre Kenntnisse der Welt sind tiefer, wo sonst Naivität vorherrscht. Eine ökonomische Strategie der russischen Regierung sehe ich nicht. Versuchen wir den klassischen Weg zur Marktwirtschaft, müssen wir mit über 40 Millionen Arbeitslosen rechnen. Polen kann kein Vorbild sein. Mehrere Generationen bei uns kennen Arbeitslosigkeit nicht. Der Unterschied zwischen zwei oder vierzig Millionen schafft eine neue Qualität. Dann, was machen wir mit den geschlossenen Städten, die ausschließlich für die Rüstung arbeiten? Es besteht ein gigantisches Potential sozialen Widerspruchs. Eins scheint den Politikern klar geworden sein. Privatisierung ist keine Lösung der kardinalen Probleme. Wenn man den Arbeitskollektiven die Produktionsmittel übergäbe, wäre das gleichbedeutend mit einem Einfrieren der gegenwärtigen überalterten Strukturen unserer Wirtschaft. Die Leute würden schnell das Gefühl haben, wieder betrogen worden zu sein. Daraus könnte leicht eine Spielart des Nationalsozialismus entstehen, oder wieder ein Nationalkommunismus. Die freundlichste Variante wäre ein national abgeschotteter Kapitalismus.

Das Interview führte Klaus Helge Donath