: Stoische Autisten
■ »Urbane Aboriginale VII« im Hebbel-Theater und im Ballhaus Naunynstraße
Urbane Aboriginale ist als Titel ein Volltreffer. Er spricht sich zwar nicht sehr flüssig, es steckt aber allerhand drin. Da klingt zum einen das städtische Element an, das, was alle betrifft, was vor der Haustür liegt — Urbanität eben. Zum anderen hört man das Originelle heraus, mit etwas Mutwilligkeit sogar das Abwegige — das subkulturelle Unikat. Die urbanen Aboriginals, das sind die Ureinwohner der Metropolen, die Nischenbewohner Gomorrhas. Der Name ist Programm.
Die Freunde guter Musik begeben sich just das siebente Mal auf die Suche nach den Originalgenies der Städte und haben ihre Netze diesmal in Osteuropa ausgeworfen, jenen weißen Flecken auf der kulturellen Landkarte, über die viel geraunt wird und wenig bekannt ist.
Die erste Station der Expedition führt nach Ungarn, nach Budapest, wo Tibor Szemzö beheimatet ist. Angekündigt war sein Snapshot from the Island als ein Stück für Baßflöte und primitive Elektronik. Und tatsächlich rahmten zwei ältere Röhrenradios (der Marke »Lerche«) den Flötisten auf der Bühne. Doch war der Rest des technischen Aufwands nicht ganz unerheblich, neben Kontaktmikrophonen wurden noch ein Tonbandgerät, ein Mixer samt Toningenieur, eine Übertragungsanlage und verschiedene Effekte benötigt. Und folgerichtig gab es auch gleich Probleme mit der Technik, dann je komplexer die Systeme, desto endgültiger die Abstürze.
Primitiv war nicht die Elektronik, primitiv war das Resultat ihrer Anwendung. Die vom Flötisten — es war der Komponist selber — gespielten Floskeln und Töne hallten mit fünfzehnfachem Echo vom rechten zum linken Kanal. Und kamen wieder. Und hallten zurück. Und wieder. Und zurück. Im immer gleichen Rhythmus.
Aufwendig gestaltete sich auch Skullbase Fracture (Schädelbasisbruch) für großes Ensemble (elf Instrumentalisten), Zigeunerkapelle, Sprecher und Videoinstallation. Das Monodram basiert auf einem Text von Pavel Havlicek, der ihn auch in sonorem und artikulationsarmem Englisch verlas. Der Erzähler begegnet bei einer Busfahrt einem Mann, beobachtet ihn, läßt seine Gedanken kreisen, nimmt die Fährte auf, stellt schließlich Überlegungen zum Schädelbasisbruch an. Begegnet er sich selber? Handelt es sich um einen Prozeß der Identitätsfindung? Ist der Schädelbasisbruch Metapher für ein zerbrochenes Ich? Wie dem auch sei, die Musik wälzt sich in einförmiger Stetigkeit durch eine schlichte Harmonienfolge, schichtet die wenigen Elemente immer wieder um, stellt die Instrumente in den Dienst eines zähfließenden Pathos und läßt eine in sich selbst kreisende Verbohrtheit aufscheinen.
Ebenfalls in Budapest tätig ist der Bildhauer Viktor Lois. Die merkwürdige Begegnung einer Dusche, eines Skis und einer Garnrolle auf dem Seziertisch des Skulpteurs gebar ein verspielt surreal anmutendes »Wasserblasinstrument«. Auch die anderen von ihm kreierten Instrumente wie der »Gasdudelsack«, die »Säulengitarre«, das »Rüsselblasinstrument« oder das »Schreibmaschinencembalo« sind einer offenkundig lebhaften Vorstellungskraft entsprungen.
Lois stattet seine Klangskulpturen mit einer Unzahl von Elementen und Details aus. Elektromotoren drehen Achsen und Propeller, Saiten und Schläuche wachsen aus den kompakten Aggregaten. So war die Erwartung, wie dies skurrile Orchester wohl klingen würde, überaus groß. Nun, die Instrumente gaben sich »eintönig«, hatten eine mehr oder weniger festgelegte Klangfarbe und aller Reichtum der Ausstattung blieb musikalisch ungenutzt, war funktionsloses Ornament. Daß die schöpferische Phantasie einem Bildhauer und keinem Musiker zugehörte, zeigte sich bei der Betätigung der Objekte. Mit festem Zugriff traktierte Lois die Saiten und Tasten mit der rhythmischen Vielfalt eines Metronoms. Auch die Co-Akteure, Lois Ballast genannt, gaben sich bezüglich ihrer kommunikativen Gesten sehr zurückhaltend. So geriet der musikalische Akt zu selbstvergessenem Zupfen und Schlagen. Tendenz: autistisch.
Zum ersten Mal wurde den städtischen Eingeborenen Musik der ländlichen Bevölkerung gegenübergestellt. Und größer hätte der Kontrast kaum ausfallen können. Den mit großem Aufwand ausgelebten monotonen (im Wortsinn) Phantasien der Metropole trat die schlichte Vitalität des Landes entgegen. Das alte Ehepaar János Zerkula und Regina Fikó spielte die alten Weisen der Ostkarpaten. Da sitzen die beiden in ihrer Bauerntracht und erzählen mit Fiedel und Trommelbaß von Hochzeiten, Liebe und Tod. Aber vor allem der Tanz — es müssen merkwürdige Tänze sein — schlägt sich in den eigenartigen Melodien und schrägen Metren nieder. Die Musik entfaltet eine suggestive Wirkung, deren rhythmischer Energie kaum zu entgehen ist: Rattenfängermusik. Frank Hilberg
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