: Gegen das Tempo den Stillstand
Frank-Patrick Steckel inszeniert „Die Wupper“ ■ Von Gerhard Preußer
Die Wupper fließt durch Bochum, zumindest in der Theaterlandschaft. Breit wälzt sich ihr schmutzigroter Farbstrom von der Bühne des Schauspielhauses ins Parkett. Rot ist sie nicht wegen der sozialistischen Überzeugung der Arbeiter an ihren Ufern, sondern von den Rückständen der Textilfärbereien. Rot ist sie aber auch, weil das Blut rot ist. Die Wupper strahlt wie das heiße Glühherz ihrer Dichterin, Else Lasker-Schüler. Und immer anders erscheint die Lebensfarbe bei wechselnder Beleuchtung, mal weißlich fahl, mal gelblich düster, mal brandrot grell. Der Bühnenbildner Johannes Schütz hat sie als zentrales Symbol in den Mittelpunkt der Inszenierung gestellt: die Wupper, den Lebensfluß.
Alle fünf Akte spielen auf der sich nach vorne schlängelnden Bühnenschräge. Alles fließt. Die Figuren steigen in den einen Fluß, der doch nie derselbe ist. Nur im zweiten Akt wird er verdeckt von einer Szenerie spätbürgerlicher Scheinidylle. Ein düsterer Himmel wird eingerahmt von hohen, dunklen Bäumen. Darunter steht die Kaffeetafel der Fabrikantenfamilie. Die Wupper fließt am fernen Horizont als rotes Rinnsal quer vorbei. Doch selbst das Unschuldsweiß des Gartentisches steht auf glimmendem Rot: Die Wupper, der emotionale Unterstrom, fließt auch hier.
Frank-Patrick Steckel hat vorsichtig versucht, dem lyrisch assoziativen Stück mehr dramaturgische Stringenz zu geben. Einen Teil des Dialogs aus dem vierten Akt hat er in den ersten übernommen. Die zwei sozialen Welten des Stückes werden so gleich zu Beginn exponiert. Eduard, der fromme jüngste Sohn der Fabrikantendynastie, erscheint als hellblaue Lichtgestalt im düsteren Armeleuteviertel der Färber. Diese Straffung nutzt die Inszenierung jedoch nur dazu, die einzelnen Bilder noch mehr auszukosten. Steckel will weder den Sozialreport noch die Skandalgeschichte. Er sucht den leisen, sparsamen Zauber.
Die Inszenierung geizt mit Details, doch was sie zeigt, das zeigt sie richtig: langsam, deutlich, vieldeutig. Der Wille zum Stil ist überall spürbar. Zwar fehlt der markentypische Steckel-Filz, doch die Einheitskluft der Textilarbeiter, verbeulte beige Anzüge mit verwischten Farbflecken, erinnert stark an die Gewänder der deutschen Soldaten in Steckels deutscher Trilogie. Doch anders als bei seiner letzten Inszenierungsserie findet Steckel einen Stil, der bei aller Reduktion der Poesie doch zu ihrem Recht verhilft.
Zu Beginn steht Carl Pius kopf. Statt auf beiden Beinen zu stehen, will er sich umkehren, Kopfarbeiter werden. Hoch hinaus will er, das Arbeiterkind will Pastor werden und endet doch ganz unten. Er ist ein verbissener Büffler, ständig repetiert er murmelnd lateinische Vokabeln, ein verbohrter Querkopf, ein Grübler aus der Wuppertaler Sektenschlucht. Er liebt Marta, die schnippische Kapitalistentochter. Beim Nachmittagskaffee im Garten schiebt sie ihm den ganzen Kuchen zu. Er mampft ihn in sich hinein und antwortet mit vollem Mund. Mademoiselle amüsiert sich blendend. Er will sie küssen, sie weigert sich. Warum er gegen die Sünde predigen wolle, will sie wissen. Weil er sie nicht genießen könne, gibt er zurück und nimmt, nun vorgewarnt, zögernd, langsam, mühsam, auf Verweigerung gefaßt in jedem Bruchteil der Sekunde, ihre Hand hoch und knutscht sie dann hektisch gierig ab. Schließlich zieht sie doch die Hand zurück und wischt sie angeekelt ab. Eine Liebesszene von seltener Düsternis und Qual.
Wenn Mutter Pius, die hexenhafte Alte, der Motor des Handlungskarussels im Stück, das kleine Liesken, die Nachbarstochter, betrachtet und bewundernd anerkennt, daß aus dem Mädchen eine Frau wird, steht das junge schmale Ding minutenlang versunken da und überlegt, was das denn heißt: „Brüst hat es schon wie junge Salatköppe.“ Wo immer sich die Gelegenheit bietet, hält Steckel das Geschehen an, als gelte es, gegen die Ästhetik des Verschwindens eine des Erscheinens zu setzen; gegen das Tempo den Stillstand.
Liesken nachtwandelt auf den Dächern, und nun kommt der Mond, die helle große Scheibe mit einem filigranen Muster aus Lichtkratern und Schattentälern, in dem man den Mann im Mond suchen kann. Das Gestirn hängt lange genug über uns, um erkennen zu können, daß es Frau Luna ist, die da herabblickt. Im Gewirr der Mondlandschaft ist ein Mädchengesicht versteckt. Die Inszenierung wird zum Bilderrätsel.
Auch wo das pralle Leben toben sollte, auf dem Jahrmarktsrummel des zweiten Aktes, ist es bei Steckel traumhaft still. Heinrich, der ältere Fabrikantensohn, ist zunächst hier ganz allein mit Liesken. Erst als das Karussell sich dreht, kommt die Gesellschaft und steigt mit ein. Dann sind die beiden wieder allein. Mutter Pius läßt sie in ihre Jahrmarktsbude. Als sie wieder hervorkommen, ist Liesken schamlos halbnackt, geschändet, und Heinrich trägt eine goldene Pappkrone und einen bunten Königsmantel: ein besoffener König Ödipus, der nach der Erkenntis seiner schuldlosen Untat sich nur selbst vernichten kann. Im Hintergrund stapft langsam der Taucher in seiner Eisenmontur umher. Seltsame Tiere leben hier im Dämmerlicht.
Nach Heinrichs Tod sitzt die Familie ratlos in ihren expressionistisch schiefen Sesseln herum, und Herr von Simon, ein dürres Strichmännchen, übernimmt als Bräutigam Martas den Betrieb. Carl bleibt nur noch der Suff und ein ohnmächtiger Aufschrei. Zusammen mit Lieskens Bruder gröhlt er in schmerzhaft gedehnter Dissonanz den Refrain des Stückes: „Oh du lieber Augustin, alles ist hin, alles ist hin.“
Steckels stiller Stil gibt keinem Schauspieler Raum zu brillieren: Zu dicht verwoben ist das Geflecht der Figuren. Die Inszenierung entschlüsselt nichts, sie findet Rätselbilder für ein Märchenspiel vom Untergang, vom Zerbrechen aller Formen im Lebensstrom. Die Wupper reißt alles mit.
Else Lasker-Schüler: Die Wupper , Regie: Frank-Patrick Steckel, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer. Mit Tilo Nest, Karoline Eichhorn, Oliver Nägele, Judith Rosmair, Angela Schmid. Schauspielhaus Bochum:
Weitere Vorstellungen: 24.10., 1., 15., 22. und 30.11.
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