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ÜBER DIE SCHWIERIGKEITEN MIT DER ZAHLENMAGIE Von Mathias Bröckers

Wir glauben keiner Statistik, die wir nicht selbst gefälscht haben. Drei Beispiele aus den letzten Tagen:

Daß nur sechs Prozent aller Frauen je an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden, will kämpferischen Geschlechtsgenossinnnen nicht in den Sinn. Zumal eine Umfrage im Frühjahr noch erbracht hatte, daß 72 Prozent unter verbaler und tätlicher Anmache durch männliche Kollegen zu leiden hatten. Da muß doch bei den Fragen etwas faul gewesen sein — bei welchen, denen mit dem Ergebnis sechs oder den 72 Prozent, bleibt der Gesinnung überlassen, das heißt unserer höchst persönlichen, subjektiven Fälschung. Wozu natürlich auch der Schluß gehört, die Wahrheit werde schon irgendwo in der Mitte liegen. Ein zweites Beispiel für die Schwierigkeiten menschlicher Wahrnehmung mit statistischer Zahlenmagie fand ich in einem schon 1988 vom Umweltbundesamt veröffentlichten Vergleich der Umweltschäden durch Plastik- und Papiertüten, der geradezu vernichtend ausfiel — nicht für das Plastik, sondern für das Papier. Die Herstellung von einer Million Tüten verbraucht fast die dreifache Energie, setzt doppelt soviel Schwefeldioxid frei, sechsmal soviel Staub, dreimal soviel Kohlenstoff und sorgt für die 50fache Menge Abwasser. Für die Herstellung der allseits verhaßten Plastikbecher gilt ähnliches — verglichen mit Pappgeschirr sind sie geradezu Umweltengel: Um eine Tonne Plastikbecher (650.000 Stück) herzustellen, bedarf es 180 Kilowatt Elektrizität, eine Tonne Pappbecher (100.000 Stück) verschlingen 6.400 Kilowattstunden. Werde ich deshalb künftig Plastiktüten mit umweltbewußtem Stolz tragen und Papier nur noch mit der Kneifzange anfassen? Natürlich nicht — diese Statistik hat garantiert einen Haken und ist am Ende sowieso von der „Industrie“ zurechtgefälscht.

Die dritte Statistik — zugesandt von einem taz-Abonnenten und „68er“ — betrifft ein besonders heikles Thema: die Zahl der in Auschwitz Ermordeten. Sie reicht von acht Millionen (franz. Ermittlungsstelle für Kriegsverbrechen 1945), fünf Millionen ('Le Monde‘, 1978), 4,5 Millionen (Eugen Kogon, 1974), vier Millionen (Militärtribunal Nürnberg 1945), drei Millionen (Kommandant Höss, 1946), 1,6 Millionen (Prof. Yehuda Bauer, 'Jerusalem Post‘ 1989), 1,25 Millionen (Raul Hillenberg, 1985), 960.000 (taz und andere Tageszeitungen 1990) — bis zu den 74.000 Toten, die in den (von den Sowjets nicht ganz vollständig freigegebenen) Totenbüchern von Auschwitz dokumentiert sind. Ist die Wahrheit Greuelpropaganda (vier Millionen) oder Weißwaschung der NS- Geschichte (74.000) oder, salomonisch, irgendwo dazwischen? Wird sie auf beiden Seiten zurechtgefälscht, vom „jüdischen Weltkapital“ nach oben und von völkischen Kameraden nach unten? Sind Zahlen wie diese nicht so etwas wie eine multiple Brille, die je nach Fokussierung jedes Weltbild schärft? Wir glauben keiner Statistik, die wir nicht selbst gefälscht haben.

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