: Tausende starben für „Olga“
Heute Dokumentation im ZDF: Das letzte Führerhauptquartier, 21.00 Uhr ■ Von Manfred Riepe
Als Deutschland im Herbst 1944 zwischen den beiden Fronten der vorrückenden Amerikaner und Sowjets zusehens eingeschnürt wurde, erhielt Burgdorf, der Chefadjudant Hitlers, den Befehl, von den Nazis geraubte Kunstschätze von Berlin ins thüringische Jonastal zu bringen. Unter dem Decknamen „Olga“ wurde dort in dem kleinen Städtchen Ohrdruf südlich von Gotha das letzte Führerhauptquartier errichtet. Unter unbeschreiblichen Qualen, so berichtet der Schriftsteller Fred Wander, der die Tortur überlebt hat, trieben 30.000 KZ-Häftlinge 18 über 100 Meter lange Stollen in den Muschelkalk. 10.000 Arbeiter wurden dabei bis Februar 1945 qualvoll getötet.
45 Jahre lang waren Recherchen nur wenigen Stasi-Offizieren gestattet. Durch einen internen Schriftwechsel der DDR-Polizeidienststellen kamen die ZDF-Autoren Franz Fritzke und Halim Hosny einigen Ungereimtheiten des „Olga“-Projekts auf die Spur, das damals dem SS-Reichsführer Himmler unterstellt war.
Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirft eine Fernsehdokumentation die Frage nach dem letzten, anscheinend bis heute unvollendeten Kapitel der Nazi-Herrschaft auf, das vor allem in Thüringen geschrieben wurde. Auf der Grundlage einer spannend vorgetragenen sowie fakten- und kenntnisreich angelegten Recherche zeichnen die Autoren folgendes Bild: Eines der wichtigsten Beutestücke Hitlers, der legendäre Salonwagen von Compienge, in dem deutsche Generäle am Ende des Ersten Weltkriegs die Kapitulation unterzeichnen mußten, wurde nach Ohrdruf gebracht. Damit nie mehr eine deutsche Kapitulation darin unterzeichnet werden konnte, verbrannten — nach Auskunft eines zu Wort kommenden Zeitzeugen — SS-Schergen den Wagen. Das ZDF-Team filmte die letzten Überreste.
In den umliegenden Orten wurden in unterirdischen Fabriken die Düsenjäger „Me 262“ gebaut. Die Forschungen an der Atombombe wurden dort weiter getrieben, als in den parallelen Bemühungen Heisenbergs.
Zentrale Reichsdienststellen und milliardenschwere Wertdepots waren ebenfalls in das Land Thüringen verlagert worden. Erste Vorausabteilungen der militärischen Oberkommandos wurden ab Februar 1945 von Berlin in den Raum Ohrdruf verlegt. Die Spur des legendären Bernsteinzimmers, das Hitler aus dem Leningrader Winterpalais hatte rauben lassen, endet auch in der kurze Zeit später von den Sowjets besetzten Zone.
Für den Standort des monumentalen Bollwerks, an dessen Bau nachweislich der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke beteiligt war, sprach, daß die Nazis über die Aufteilung Deutschlands nach dem Krieg informiert waren. Bis zur Unterteilung Berlins war Thüringen als amerikanische Besatzungszone vorgesehen.
Die Nazis hofften offenbar auf eine Anti-Sowjet-Kollaboration mit den Amerikanern und gedachten, Kunstgegenstände und Wertdepots als Faustpfand einzusetzen. Eine Hypothese, die der ZDF-Film nur vorsichtig aufstellt, dafür aber mit umso mehr Fakten anreichert.
So ist aktenkundig, daß General Eisenhower am 12. April 1945 das nahegelegene KZ Ohrdruf besuchte. Das Projekt „Olga“, über das sogar die Anwohner Bescheid wußten, ist jedoch offiziell in keinem Bericht der US-Archive aufgetaucht. Zwei Tage vor Eisenhowers Besuch erging die Weisung des US-Außenministeriums mit der höchsten Geheimhaltungsstufe.
Rätselhaft sind nach wie vor die erheblichen Differenzen zwischen den von den Nazis zurückgelassenen Bestandslisten und der Anzahl der Kunstgegenstände, die vor dem Eintreffen der Sowjets von Ohrdruf nach Marburg abtransportiert wurden.
Die Eingänge des Bunkersystems wurden nach Kriegsende von den Sowjets gesprengt, die bislang keine Nachforschungen angestellt haben. Im Mai 1992 wird die Rote Armee den heutigen Truppenübungsplatz Ohrdruf räumen. Eine Fortsetzung der Dokumentation, die dem nie aufgefundenen Führerhauptquartier im Zentrum des Stollensystems nachgeht, ist geplant.
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