: Farcen des Scheiterns
■ Fünf Bohemiens in Reutlingen, ein Robert Walser in Bern: Zwei Stücke in Freiburg
Fünf arbeitslose Kulturschaffende, verbummelt, verkracht, verzweifelt, in Reutlingen, der Stadt, um die selbst der Neckar einen Bogen macht: Das kann nur, übrigens auch buchstäblich, in die Hose gehen. Maria Plague plagt sich als erfolglose Hörspielautorin und hysterische Domina. Ihr Freund Jürgen Mühte müht sich vergebens als impotenter Bataille-Jünger, die Theorie der Selbstverschwendung in der Badewanne zu leben. Lila Kris, die üppige, paranoide Schauspielerin, hat allenfalls Aussichten, einmal „Miss Tits am Theater in der Tonne“ zu werden. Die leicht schizophrene Cora Frost kompensiert eine mutmaßlich triste Karriere als Musiklehrerin in Kirchheim/Teck mit universeller Liebestollheit. Und der Stuttgarter Kulturredakteur Franz-Maria Salomé schließlich, ein Schwuler, wie der Name schon sagt, erliegt gleich von vornherein den Versuchungen der Stütze. Alles umsonst: Das manisch-depressive Boheme- Völkchen, das Andreas Marber für sein zweites Stück (nach dem Zarah- Leander-Monolog Die Nazisirene) mit dem bizarren Titel Der Lockruf der Bahnhofsmission verhallt ungehört: Wir erliegen den Versuchungen der Arbeitslosenunterstützung aufgeboten hat, taugt nicht einmal als Vorwurf für ein Bühnenstück.
Das ist nun nicht der schwäbischen Provinz anzukreiden. Reutlingen — als Ort und als Lebensform — muß zwar für alles Unglück des Künstlerquintetts herhalten, aber die monströsen Monologe über Gott und die Welt und einige letzte Fragen (etwa Kfz-Nummern, Kunst und Zeit), die Kalauer und herben Klamottenwitzchen („Verpiß dich, oder ich dreh dir die Samenstränge hintenrum zusammen“) gehen auf Marbers Konto. So hoch es ihm anzurechnen ist, daß er die „Krankheit der Jugend“, die ihre gescheiterte Existenz bei Aldi-Sekt, Knabbergebäck und anderen Brosamen der Zivilisation fristen muß, nicht als larmoyantes Sozialmelodram aufzieht: Zum angedrohten verzweifelt lustigen „Unterhaltungsspiel“ hat es auch nicht gereicht. Nur zu einer geschwätzigen Nummernrevue, die auch durch aufgedonnerten Tiefsinn und lautes Gezeter nicht an Fahrt gewinnt, geschweige denn an dramatischer Form. Der eigens zu diesem Behufe eingeführte Studienrat mit BMW und Pensionsberechtigung paßt sich jedenfalls, lüsterner Bürger, der er ist, nahtlos in eine Lebensform ein, die mit den pubertären Lustbarkeiten von Saufen, Scheißen & Schwanzvergleich anhebt und im Zertrümmern von Fernsehern und Modelleisenbahnen, Pianos und Wörtern („im Augenfick“) gipfelt.
Regisseur Stephan Kimmig hat sich bei der Uraufführung im Freiburger Podium nicht recht zwischen Tragödie und Slapstick entscheiden und so der Marberschen Ideendiarrhö Halt weder geben noch gebieten können. So ergießt sich die Bescherung, ein Warenkorb voll mit monomanen Größenideen, Selbstmitleid und Demütigungen, nahezu ungebremst auf die Bühne, bis endlich alle Asti Spumante geleert und alle Scherzkekse verzehrt sind. Die Farce des Scheiterns ist eine gescheiterte Farce; der Lockruf des Theaters verhallt ungehört. Leiser und zarter reagiert da schon Gert Hofmanns Komödie Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein auf die Versuchungen des heiligen Künstlers. Das ist einem Autor durchaus angemessen, der immer kleiner und feiner über immer kleinere und feinere Gegenstände und — in seinen klitzekleinen Bleistiftkritzeleien — endlich „gar nichts mehr über gar nichts“ schrieb.
Paul Burian hat 1975, noch zu seinen Schaubühnen-Zeiten, in Thomas Koerfers Robert-Walser-Verfilmung Der Gehülfe selber einmal den Dichter gespielt, dem auf Erden nicht zu helfen war. Diese Erfahrung hat seiner ersten Freiburger Regiearbeit nur gutgetan. Vor allem aber hat er im Freiburger Schauspielerstar Robert Hunger-Bühler einen Darsteller gefunden, der den zwischen würdevoller Resignation und wütendem Aufbegehren, zwischen Bescheidenheitstick und Größenwahn schwankenden Selbstverkleinerungskünstler ganz ohne grelle Gesten und grelle Manierismen nachempfindet.
Sein Robert Walser ist ein armer Hund (die Pfoten nah am Körper, der Schwanz eingekniffen, der Blick treuherzig, neugierig und fest), aber keiner von jenen triefäugigen Kreaturen, die sich willfährig kraulen und zum Tolpatsch verniedlichen lassen. Ein reiner Tor, aber einer, der närrisch genug ist („Als Dichter bin ich nebenbei auch Mensch“), seinen Marktwert zu kennen. Daß er ihn nicht realisieren kann, daß er mit seinen „unverschämten“ Honorarforderungen beim Verleger Hauschild und dem Literaturbetriebswirt Gissinger vielmehr so kläglich scheitert wie mit seinen verzwickten „Caressierversuchen“ bei Frau Mermet, macht ihn zu einer tragischen Figur: Er ist ein Niemand, ein Nichts — aber was für eines. Daß er Hindernisse erquickend, Beschimpfungen wohltuend nennt; daß seine ostentative „Vertrottelung“, die eigentümliche Form seiner als Schwäche mißverstandenen desperaten Selbstbehauptung, die Spieß- und Bildungsbürger mehr irritiert und decouvriert als jedes Auftrumpfen: Diese subversive Nettigkeit macht das Stück zur Komödie.
Hunger-Bühlers Walser lebt und liebt und schreibt aus einem Inwendigen heraus, das „mit kaltem Samt ausgelegt“ ist. Darunter leidet die dralle Madame Mermet, die der „Nieerblicktheit ihres Busens“ so gern abgeholfen hätte. Darüber wundert sich der Berliner Verleger, dem Walser — auch dies eine biographisch verbürgte Episode — als sein eigener Kammerdiener Caesar („Nennen Sie mich Julius“) gegenübertritt. Und noch mehr staunt der Vorsteher des Berner Literarischen Vereins, mit welch selbstverständliche Unverschämtheit der abgerissene Dichter sich an seinen Zigarren vergreift und seine Leutseligkeit mißbraucht.
Keine Frau, kein Geld, kein Ruhm: Natürlich ist Walser am Ende der arm-selige Verlierer. Aber er verliert so anmutig, so unschuldig und nobel, daß sich die Welt an seiner weltfremden Blödigkeit allemal blamiert. Der Regie-Einfall, am Ende auch noch ein ganz in Weiß gewandetes Kind Walsers in Engelszungen reden zu lassen, ist dagegen Burians (einzige) Eselei: Walser mag ein Schlachtopfer gewesen sein, aber er war auch „das Gegenteil von einem Lamm“: „Ich kann die Leute förmlich in den Schlaf hinein schauern, so sehr ermüden sie am Anblick meiner Hunderten von Munterkeiten, mit denen ich in hiesiger besseren und blässeren Damenwelt bereits einiges Unheil angerichtet zu haben gröblich hoffe.“
Andreas Marber: Der Lockruf der Bahnhofsmission. Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Cary Gayler. Mit Dietmar Nieder, Sabine Bräuning, Marietta Meguid, Michael Stiller. Freiburger Theater, Podium.
Gert Hofmann: Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein. Regie: Paul Burian, Bühne: Annette Ganders. Mit Robert Hunger-Bühler, Kammertheater Freiburg. Weitere Aufführungen: 29.10. und 1.11.
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