piwik no script img

Berlin is (k)eene Wolke

Immer mehr Leute, einst aus der westdeutschen Provinz eingewandert, wollen plötzlich weg aus der Hauptstadt. Zu schnell und doch zu dürftig verändere sich alles. Doch schon der Gedanke an Abwanderung führt oft in die Identitätskrise. Berlin macht süchtig. Erste Erfahrung eines Selbsthilfeversuchs.  ■ VON PHILIPPE ANDRÉ

Ganz zufällig traf ich Charly im ehemals Ostberliner Treptower Park. Zwischen verbissen kämpfenden Freizeitkickern hatte er mutig sein Handtuch ausgelegt und kauerte nun auf ihm wie ein hautkranker Ex-Yogi, der vor Jahrzehnten das letzte mal meditativen Verkehr mit der Sonne gehabt hatte.

„Hey Alter“, rief er, als er mich sah, doch warf er mir dies in einem Ton zu, in dem man Sätze sagt wie „Du, ich mach Schluß“, oder ähnliches.

Minuten später war zur Gewißheit geworden, was ich auf Anhieb zu erkennen geglaubt hatte: „Im November hau ich ab, Du, ich zieh nach Ravensburg zurück. Schnauze echt voll.“ Dabei sah er durch seine 68er- Gläser und mich hindurch ins Weite; Twilight-Zone!

*

Es war der Gesichtsausdruck. Er war so typisch. Bald jeder, der sich ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigt, Berlin zu verlassen, ist dieser Veränderung seiner Gesichtszüge, ja oft der ganzen Erscheinung ausgesetzt. Meist beginnt es mit den Augen. Ihr glasiger Glanz deutet bald schon auf harsche Verzweiflung und unermeßliche Trauer hin. Es gesellen sich graugelbe „Abschiedsringe“ über grotesk aufgeblähten Tränensäcken hinzu. Eine neue Akne-Periode setzt ein, in deren Schlepptau schreckliche Alpträume die Nächte durchpflügen.

Dann geht es schnell: herabfallende Mundwinkel, zerbissene Lippen und grobe Sorgenfurchen auf der Stirn sind ebenso stumme wie schreiende Zeugen eines gnadenlosen inneren Kampfes gegen die „Sucht Berlin“. Im fortgeschrittenen Stadium zeigt der ganze Körper der Betroffenen ernste Spuren der Verwahrlosung auf. Kleidung wird der zunehmend fadenscheinigen Gestalt nur noch übergeworfen, Valium oft zum festen Bestandteil der ursprünglich streng homöopathischen Hausapotheke.

*

Der Vergleich zum Alkohol und seinen Folgen liegt aber auch aus anderen Gründen nahe. Wird sich der Berlin-Süchtige seiner Abhängigkeit doch erst dann bewußt, wenn er die Stadt aus irgendeinem Grunde verlassen will — oder muß. Solange er bleibt, geht er langsam an ihr zugrunde, geht er, geht's schneller.

Charly war drauf, keine Frage. Aber noch bestand Hoffnung. Also machte ich mich an die Arbeit, schilderte meinem alten Freunde und Landsmann geduldig und in den düstersten Farben all jene tragischen Fälle, in denen Kollegen, Bekannte, ja sogar gute Freunde ihre Kraft und Lebensfreude gelassen hatten.

Ich erzählte von Heinz und Mine, die nach sechs Monaten Stuttgart bereits aussahen wie andere nach sechs Jahren im ewigen Eis: mental fahrig und mit der Ausstrahlungskraft defekter Luftbefeuchter. Heinz sprach am Telefon immer nur von der neuen Daimler S-Klasse und übervollen Autobahnen, und Mine, einst ultraautonom, flocht in jeden dritten Satz ein, sie hätten sich hier „schee aigrichtet“ und würden immer wieder was „kähles erlääben“. Widerlich!

„Ich habe jeden Kontakt mit diesen Novizen der Ödnis abgebrochen“, schloß ich: „Das sind halt Leute, die nicht gelernt haben zu genießen.“

„Dummschwätzer blöder!“ Er hatte mich die ganze Zeit aus weit aufgerissenen Augenhöhlen angestarrt und geschwiegen. Nun hielt ihn nichts mehr. „Von wegen Genuß, eine Ausgeburt an Häßlichkeit, Lärm und Gemeinheit ist diese Stadt“, bellte er böse, „eine architektonische Medusa, ein betoniertes Höllenfeuer. Nenn mir nur einen Ort, an dem Du hier wirklich Ruhe hast, hä, das kannst Du wohl nicht, hä, ich will hier raus, verstehst Du?“

Er hatte sich in Rage geredet, sein unentwegt zuckendes Antlitz war aufgedunsen und blutrot. Er quälte sich. Ich hatte behutsam vorzugehen, so viel war klar, denn er war bereits zu einem jener Idioten geworden, die den Kampf gegen die „Sucht Berlin“ aufgenommen hatten. Sein Sieg über die Stadt war etwa so sicher wie der des Alkis über die Pulle.

Also sprach ich, nun wieder leise und mit warmer Stimme, auf ihn ein, ließ ihn jedoch — immer freundlich und von geradezu asiatischer Geduld und Höflichkeit — möglichst wenig zu Wort kommen. Doch er war nicht kleinzukriegen, das Fieber brannte schon zu mächtig. Ich begann zu kämpfen, schmeichelte, log und bezirzte und vermeinte bald, erste Erfolge verbuchen zu können. Doch dann, in groben Stakkatos, erbrach er Sätze wie „Sieh es Dir doch an, dieses wiedervereinigte Monster. Es hat sich zur boshaften Fratze einer aggressiven Profitratte gewandelt, wild um sich beißend und schnappend, nur vom Gedanken beseelt, zu fressen.“ Ich schluckte schwer, schwieg jedoch zunächst.

„Die guten Jobs sind eine schöne Erinnerung an goldene Frontstadtzeiten“, fuhr er unbeirrt fort, „ich hab Angst, aus meinem Wohnklo zu fliegen, und gestern haben mich in der U-Bahn schon wieder Skins angemacht. Die hatten Vierkanthölzer und das Mitleid angeschossener Pittbull-Terrier, verstehste.“

Wir waren in einer Sackgasse; fieberhaft überlegte ich, was zu tun sei. Doch mir fiel nichts ein. Also blieb nur die Roßkur: Ich würde ihn Hanne und Frank vorstellen, vielleicht auch Georg, dem Mann, der zwar seit eineinhalb Jahren in München lebte, seinen Sommerurlaub jedoch stets im Kreuzberger Prinzenbad verbringen mußte. Nein, Georg nicht, das war zu hart, aber Hanne und Frank, das müßte gehen. Sie hatten ein Jahr Nürnberg hinter sich und standen noch stark unter dem Eindruck der grausigen Erlebnisse. War es im Raum und von der Straße her mehr als dreißig Sekunden ruhig, flippte Hanne regelmäßig aus. Sie faselte daraufhin was von „grauenhafter Totenstille“ und bekam Schluckauf. Frank sprang dann immer auf und stellte Radio und Fernseher an. Einmal ertappte ich sie, als sie mit verzücktem Gesicht vor einer Baustelle in der Kochstraße verharrten und sich einfach nicht losreißen konnten.

*

Ja, ich würde Charly mit diesem menschlichen Elend konfrontieren, denn wenn Frank von Nürnberg erzählte, gefror einem das Blut im Leibe. „Mach nichts Unüberlegtes, Junge, du wärst dem Kulturschock so nicht gewachsen“, raunte ich zum Abschied und lud ihn für den folgenden Abend zu mir ein. Ich sagte Hanne und Frank Bescheid und wälzte die gesamte einschlägige Literatatouille nach den Vorzügen dieser Stadt durch.

Eine mühselige Arbeit übrigens, die mich nicht nur die Nacht, sondern überdies eine Menge Nerven gekostet hat, weil all die Autoren nie konkret werden. Wie ein running PR- Gag wird immer nur die blöde Stadt an sich gerühmt, nebulös wie „Berlin is eene Wolke“ oder eben „eine Reise wert“, was ein Schwachsinn, ausgerechnet Berlin. Oder sie wurden überkonkret, nannten Straßen, Plätze, Cafés und andere Einrichtungen, die es natürlich so längst nicht mehr gibt.

Die meisten jedoch machten sich über den märkischen Moloch schlichtweg lustig. Nabokov etwa äußerte sich leicht verschnupft zum hiesigen Klima: „Der Berliner Sommer stand in vollen Fluten (es war die zweite Woche kalten und feuchten Wetters und ein Jammer zu sehen, was alles umsonst grün geworden war (...) .“ Hemingway mokierte sich über das Berliner Nachtleben: „Es gibt in Berlin keinen einzigen Nachtclub, der nicht abstoßend, bedrückend, finster und trostlos wäre. Die Ausgelassenheit ist so gezwungen, wie sie am 14.Juli in Paris echt ist (...) .“ Und Tucholsky schrieb über das maskuline Berlin: „Wir Männer aus Berlin und Neukölln, wir wissen leider nicht, was wir wölln. Wir pisacken uns und unsre Fraun; uns sollten sie mal den Hintern aushaun (...) .“ Ringelnatz schließlich, der die Stadt doch heiß und innig liebte, brachte durchaus auch „das andere“ Berliner Lebensgefühl rüber: „An den Kanälen / Auf den dunklen Bänken / Sitzen die Menschen, die / Sich morgens ertränken.“

*

Irgendwie kam ich immer schlechter drauf, weil ja gar keine echten Vorzüge zu finden waren und mir plötzlich auch keine mehr einfielen. Im Gegenteil. Am Ende war ich stinksauer. Auf Charly, aber vor allem auf mich, weil ich mich schon wieder als Berlin-Therapeut aufgespielt hatte. Und auf die Stadt war ich sauer, weil sie ihr Geheimnis nicht lüftete. Denn irgendeinen Grund mußte es doch dafür geben, daß kaum ein Wegziehender bereit ist, seine Wohnung in der Stadt aufzugeben, die er doch angeblich so endgültig verlassen will. Außerdem fiel mir schon die ganze Zeit auf, daß die Verräter exakt dieselben Argumente für ihren Abgang benutzen, mit denen sie weiland ihren Zuzug begründeten:

Das kulturelle Angebot wird von den Fliehenden von einem Tag auf den anderen gern als die freie Entfaltung störendes Überangebot beschrieben. Die rapide anwachsende Qual der Wahl zeichne den Weg vom lebensfrohen und ausgeglichenen Menschen zum unweigerlich isolierten „leidenschaftlichen Wohner“ vor. Darauf hätten sie „echt keine Böcke“.

Der Lärm sei nach der Maueröffnung vollends unerträglich geworden, und die Alternativszene, einst heiß geliebt, ist nach Jahren der Pionierarbeit für ein anderes Leben und Arbeiten unversehens zum kalten Kaffee geworden, schal und ungenießbar. Nun sei es an der Zeit, auch mal Bares einzustreichen, heißt es, ohne gleich als gefährliche Psychopathen denunziert zu werden.

Dann der Schmutz überall. Vor allem die zugereisten Schwaben beklagen ihn plötzlich gern. Doch waren sie nicht gerade deshalb hergekommen, weil es in Berlin „koi Kährwoch'“ gibt? Hatten sie sich nicht einst im Schmutze des Kreuzberger Kiezes von ihrer sozialisationsbedingten heimatlichen Sauberkeits- und Ordnungsmacke gleichsam gereinigt?

Oder das Gefühl von Enge. Der Fall der Mauer habe Berlin nur scheinbar zur „offenen Stadt“ gemacht. In Wahrheit käme man doch gar nicht mehr raus. Ein popliger Wochenendausflug ins giftgrüne Brandenburger Umland nur sei im Schnitt mit sechs Stunden Hin- und Rückfahrt zu veranschlagen: zwei hin, vier zurück. Da könne man doch gleich in der Hasenheide bleiben, denn mit der S-Bahn könne man ja kaum noch fahren. Dort wimmle es neuerdings nur so von Dieben, Schlägern und weit Schlimmerem. Die Presse weise doch stets darauf hin.

Charly kam überraschend pünktlich um acht. Er wirkte ruhig, fast gelassen. Doch ich war ungehalten. Hanne und Frank hatten versprochen, bereits um 19 Uhr 30 da zu sein und mit mir einige taktische Varianten durchzugehen.

Als die beiden dann gegen 21 Uhr endlich einliefen, entschuldigten sie sich damit, es sei einfach zu toll gewesen. Sie hätten partout keinen Parkplatz finden können und die „geile Situation in vollen Zügen genossen“. Auch nicht schlecht! Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Charly mehrfach zusammenzuckte, während Hanne erzählte. Ich war zufrieden, durfte jedoch keine Zeit mehr verlieren. Rasch servierte ich die lauwarmen Schultscheiß-Flaschen nebst fetten Kebabs von der Kottbusser Brücke, auf die Hanne und Frank neuerdings so standen. Auch öffnete ich auf Franks Geheiß hin die Fenster zur Straße und legte ein MC-Hammer-Tape meines Kleinen ein. Wir unterhielten uns schreiend, was dazu führte, daß vor allem Hannes mächtige Stimme sich durchsetzte. Als Charlys Teint die alabasterfarbene Blässe eines Leichentuchs anzunehmen begann, schickte ich die beiden diskret nach Hause, schloß rasch die Fenster und tauschte Hammer gegen Telemanns Tafelmusik.

„Na Charly, was sagst Du“, säuselte ich eine Weile später.

„Sind sie alle so, wenn sie zurückkommen?“ brummte er zerknirscht.

„Alle“, bestätigte ich mit ernstem Nicken.

„Aber was dann ist mit denen, die nicht ...“

„Untote“, flüsterte ich beschwörend, „Zombies, die nurmehr Auto fahren, fernsehen und einkaufen wollen. Die meisten kommen zwar zurück, klar, aber Du hast ja gesehen, sie sind jetzt anders.“

„Okay“, gab er endlich auf, „Du hast gewonnen. Ich überleg mir das nochmal.“ Er zitterte leicht am ganzen Körper, als er mich mit Pieke Biermanns Potsdamer Ableben unterm Arm verließ.

*

Das Treffen war gut verlaufen. Zwar würde ich ihn einer Nachbehandlung unterziehen müssen, doch grosso modo war er übern Berg. Unsere Selbsthilfegruppe funktionierte. Vielleicht sollte ich Annoncen plazieren, in 'Zitty‘, 'tip‘, taz und 'Tagesspiegel‘ etwa. Ein schöner Gedanke. Als meine Frau nach Hause kam, erkannte ich sie nicht gleich. Kommen sah ich vielmehr meine hübsche zukünftige Chefsekretärin, die baldige Herrin über Tausende von Karteikarten verzweifelter, aber zahlender Bürger, die ich als offizieller Berlin-Therapeut zum Verweilen bewegen sollte. Eine Goldgrube! Ich fühlte mich aufgeräumt und stark. Daher brauchte ich an diesem Abend auch nur schlappe zwanzig Minuten, um sie von dem häßlichen Gedanken abzubringen, dieser Stadt mit großer Zukunft den Rücken zu kehren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen