: „Wie im Stadion von Santiago“
■ Die eigentlich Verantwortlichen für den Kessel wurden nie zur Verantwortung gezogen
Hamburg (taz) — Am Morgen des 9. Juni 1986 jubelten Hamburgs Medien: Die Polizei habe vortags eine „Welle der Gewalt“ verhindert. In den Gazetten dankte SPD-Innensenator Rolf Lange seiner glorreichen Polizei, eine „Schneise der Gewalt“ verhindert zu haben. Lange selbst hatte sich am 8. Juni mehrmals ins Einsatzgeschehen eingeschaltet, als mehr als 1.000 Polizisten 862 Anti-Atom-Demonstranten auf dem Heiligengeistfeld gefangenhielten. Er höchstpersönlich ordnete an, den Kessel fortzusetzen. Doch schon Tage darauf, als die Betroffenenberichte erschienen, schwenkte das politische Klima um. Der Sozialsenator fühlte sich an „das Stadion von Santigo de Chile“ erinnert, und der damalige SPD-Fraktionschef Henning Voscherau sprach von „staatlicher Geiselnahme“. 60.000 Teilnehmer demonstrierten gegen den Kessel. Folge: Noch während der Sommerpause trat der Innenausschuß der Hamburger Bürgerschaft zusammen, das polizeiliche Handeln wurde als „rechtswidrig“ verurteilt. Ebenso urteilte wenige Monate später das Hamburger Verwaltungsgericht. Den Betroffenen sprach das Landgericht ein Schmerzensgeld von je 200 Mark zu.
Und dann nahm die politische Aufarbeitung des Kessels einen merkwürdigen Lauf. Nicht etwa Innensenator Rolf Lange sollte nach dem Willen der Staatsanwaltschaft vor den Kadi gezerrt werden, sondern „nur“ die vier maßgeblichen Einsatzleiter Rürup, Krappen, Honka und Arthecker. Das rief nicht nur unter den Angeklagten, sondern auch unter den Kesselopfern Empörung aus. Und auch in der Innenbehörde zeigten die Kessel-Folgen keine Wirkung: Der jetzige SPD-Senator Werner Hackmann versetzte Rürup auf einen lukrativen Posten, Heinz Krappen wurde befördert. Lediglich Honka verzog sich frühzeitig in den Ruhestand — aber nicht wegen des Kessels, sondern weil er wegen Fahrerflucht und Meineids verknackt worden ist.
Rolf Lange als politischer Drahtzieher des Kessels zeigte in dem gestern zu Ende gegangenen Verfahren Weitsicht: Er verweigerte die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Für die NebenklägerInnen ist mit dem Urteil daher die Aufarbeitung des Kessels noch nicht beendet. Sie forderten gestern von der Staatsanwaltschaft, das Strafverfahren gegen Lange sofort wieder aufzunehmen. Kai von Appen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen