Jandl ich, Ernstl du

■ Laut und Schritt wieder im Duett in der Tanzfabrik

Auf Zungen- und auf Zehenspitzen tanzen Martin Schurr und Annette Klar ihren »Ernst Ernst«; Gedichte von Ernst Jandl dienen als Motor der Bewegung in dem neubearbeiteten Stück der Coreographin Jacalyn Carley. Worte und Buchstaben erhalten Volumen, Gewicht, Charakter; sie beginnen zu stelzen, zu hüpfen, zu kriechen. Die Bedeutungen des Alphabets der Sprache sind so wenig wie die des Körpers eindeutig determiniert; Sinn unterschiebt ihnen erst der Kontext. Was in Jandls Gedichten oft das Schriftbild ausdrückt, übernimmt auf der Bühne der Körper. Lautmalend und leisetretend illustrieren Klar und Schurr Vierwortgedichte in vier Schritten. »Nördl ich, südl du« ist danach kaum anders denkbar als mit weitgreifenden Ausfallschritten in die Himmelsrichtungen.

Über die Illustrierung hinaus geht das Spiel mit den Lautgedichten: je reduzierter das sprachliche Material, je ferner dem Zugriff von Syntax und Semantik, desto weiter der Spielraum der Interpretation. Der Körper übernimmt die sinnstiftenden Funktionen der Grammatik. Weder Punkt noch Komma kann da im Gedicht »a komma punkt« die Flut der Lesarten aufhalten, die vom Liebesgeflüster bis zum martialischen Verhör, vom orgiastischen Stöhnen bis zum liturgischen Singsang reichen. Im »Chanson« werden Text und Tanz in ihre Bestandteile zerlegt, die als unendliche Menge Puzzlesteinchen zu immer neuen Kombinationen verführen, deren Sinn unsere in Konventionen befangenen Hirne nur noch nicht fassen. Dem sprachlichen Ausgangsmaterial »L'amour, die Tür, the chair« korespondieren drei pantomimische Gesten, die, durchgeschüttelt wie die Sprachen, Artikel und Substantive in einen virtuos kreiselnden Tanz führen.

Schieben im ersten Programmteil Sprüche, Worte und Laute das Karussell der Bewegungen immer von neuem an, ist der zweite Teil dem vielstrophigen Lied »die klinke des pinguins« gewidmet. Mit jedem Luftzug atmet Martin Schurr Sprache aus und treibt die Tänzerin damit an wie die Peitsche den Kreisel. Kein Wunder, daß sie sich endlich am Ende der langen Wortkaskade, die in jeder Strophe einen neuen Rhythmus und eine andere Tonart beschwor, an diesem Sprachautomaten rächt. Sie nimmt ihm den Atem, verstopft ihm das Maul, schleift ihn an den Beinen über die Bühne. Rabiat besteht der Körper auf seinem Recht, von den sprachlichen Manipulationen nicht überrollt zu werden.

1979 begannen der Schauspieler und Sprachakrobat Martin Schurr und die Choreographin Jacalyn Carley, Jandls Texte für Sprach- und Tanzoperationen zu nutzen. Leibliche Konkretionen seiner Poesie gehören seitdem zum Tanzfabrik-Repertoire und sind nun in einer Neubearbeitung zu einem witzigen einstündigen Programm ausgeweitet worden. Katrin Bettina Müller

»Ernst Ernst« in der Tanzfabrik, Möckernstraße 68, 25.-27. Oktober, 1.-3. November, jeweils 20.30