: Ex-Stasi-Vize Neiber fehlen die Worte
Im Mauer-Prozeß verweigert Mielkes Stellvertreter die Aussage: „De Maizière hat mich zum Schweigen verpflichtet“/ Zweiter Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Seidel ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz
Blitzschnell wird es ruhig im Moabiter Schwurgerichtssaal 700. Noch sitzen nicht alle auf ihren Plätzen, da beginnt Verteidiger Henning Spangenberg mit seinem Mißtrauensantrag. Wegen Besorgnis der Befangenheit müsse der Vorsitzende Richter, Theodor Seidel, abgelehnt werden. Das ist der zweite Befangenheitsantrag gegen Seidel im Prozeß um die vier ehemaligen Grenzsoldaten der DDR.
Der Verteidiger von Ingo Heinrich will am Montag erfahren haben, daß Seidel bereits im August 1961 Mitarbeiter einer Fluchthilfegruppe gewesen sei. Diese Organisation wurde nach Darstellung von Spangenberg sogar vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz „entgeltlich“ unterstützt. Fast entschuldigend bittet Spangenberg: „Verstehen Sie mich nicht falsch. Fluchthilfe ist gewiß nichts Ehrenrühriges, im Gegenteil. Vielleicht haben Sie ja vielen Menschen geholfen.“ Deshalb könne aber nicht ausgeschlossen werden, daß Seidel befangen sei. Während Spangenberg redet, schaut Richter Seidel stur nach rechts unten; Spangenberg sitzt links. Der Antrag, dem sich Verteidiger Eisenberg anschließt, wird vorerst vom Gericht zurückgestellt. „Aber“, versichert Seidel, „ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß 95 Prozent Ihrer Behauptungen nicht richtig sind.“
Die Verfahrenstaktik im Prozeß um den Tod des Chris Gueffroy, der in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 an der Berliner Mauer erschossen wurde, hat sich geändert. Es ist jetzt nicht mehr nur Eisenberg allein, der — schlagzeilenträchtig — prominente „Zeugen“ wie etwa Michail Gorbatschow oder Erich Honecker anhören lassen will. Weil Eisenberg nach den Worten von Seidel dazu neigt, Anträge zu stellen, deren Ernsthaftigkeit zu bezweifeln ist, werden diese „Zeugen“ nun nicht nach Moabit geladen.
Als wollte der ansonsten besonnen auftretende Richter nun auch einmal von sich reden machen, lud er gestern Gerhard Neiber, von 1980 bis 1989 Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke, als Zeugen vor Gericht.
Viele Prozeßbeobachter hatten gedacht, mit der Anhörung des Grenzregiments-Kommandeurs Walter Schulze in der letzten Woche sei die Beweisaufnahme abgeschlossen. Doch Seidel machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Zumindest aber überraschte er Eisenberg, der vielleicht schon gar nicht mehr geglaubt hatte, daß Gerhard Neiber, 62, als Zeuge vernommen wird.
Warum er als Zeuge geladen wurde, bleibt auch nach der gestrigen Befragung das Geheimnis des Gerichts. Gebracht hat es jedenfalls nichts. Er sei zwar „grundsätzlich“ bereit auszusagen, erklärte der untersetzte Ex- Stasi-General. Aber von de Maizière sei er im Mai 1990 verpflichtet worden, über seine Tätigkeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu schweigen: „Zu dienstlichen Dingen kann ich Ihnen daher nichts sagen.“ Gericht und Verteidigung waren verblüfft. Spangenberg schlug vor: „Vielleicht sollte man dem Zeugen sagen, daß der Staat, für den er gedient hat, nicht mehr existiert.“ Seidel: „Ich habe das als bekannt vorausgesetzt.“
Gerhard Neiber, der im März 1991 verhaftet und am 22. August wieder freigelassen wurde, ließ zu DDR- Zeiten die Nationale Volksarmee, Polizei und Grenztruppen bespitzeln. Dem Generalleutnant, der heute in Berlin lebt, unterstanden die Anti-Terror-Trupps des Ministeriums für Staatssicherheit. Er sorgte mit dafür, daß Aussteiger der Rote Armee Fraktion in der DDR Unterschlupf fanden; gegen Neiber läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Noch im Dezember 1989 wurde von ehemaligen MfS-Generälen aus Teilen der Anti-Terror-Abteilung des MfS, fast zeitgleich mit dem Beschluß des Runden Tisches zur MfS- Auflösung, eine Hundertschaft Freiwilliger zusammengestellt. Ausgerüstet mit Pistolen, Schlagstöcken, Kampfspray und Handfesseln sollte sie Generalleutnant Gerhard Neiber und andere Generäle der Staatssicherheit vor aufgebrachten DDR- Bürgern schützen.
Der 13. Verhandlungstag endete wie erwartet: ergebnislos. Bis zum nächsten Prozeßtag am 4. November darf der ehemalige Stasi-General sich anwaltlichen Rat holen. Sollte Neiber jedoch die Aussage auch dann noch verweigern, deutete Richter Seidel an, müsse er mit Beugehaft rechnen.
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