INTERVIEW
: „Es gibt wenig Positives“

■ Die Atomwaffenfrage wird in den Republiken der Sowjetunion in erster Linie nationalistisch mißbraucht

taz: Sie waren gerade in Kasachstan, wo unter anderem sowjetische Atomwaffen getestet wurden.

Sebastian Pflugbeil: In der kasachischen Wüste wurden auf dem größten Testgebiet Semipalatinsk vom August 1949 bis zum Oktober 1989 Atomwaffentests durchgeführt, bis 1963 sogar noch in der Atmosphäre. Etwa acht Monate vor der letzten Explosion entstand eine Bürgerbewgung, die dieses Testgebiet schließen wollte. Anläßlich des zweiten Jahrestags der Beendigung der Tests gab es in Kasachstan eine Konferenz, auf der Fachleute und Betroffene auftraten, aber kaum handfeste Informationen vermittelten. Es bestätigte sich der Eindruck, daß Nationalismus, politischer Egoismus und Engagement für eine gute Sache sehr nah beieinander liegen. So erlebten wir eine Podiumsdiskussion, wo der führende General dieses Testgebiets und der ranghöchste Atomphysiker der UdSSR, der für einen Teil dieser Tests verantwortlich ist, sowie der erste Mann der Bewegung „Nevada- Semipalatinsk“, ein kasachischer Dichter, eng nebeneinander saßen, friedliches Einvernehmen demonstrierten und überhaupt nicht kontrovers diskutierten.

Will die Bürgerbewegung „Nevada-Semipalatinsk“ auch das atomare Waffenpotential abschaffen?

Das ist alles sehr widersprüchlich. In Kasachstan hat die Bewegung gegen Atomtests sehr schnell die gesamte Bevölkerung ergriffen und ist zu einem nationalistischen Thema geworden. Das klingt zunächst einmal positiv. In Kasachstan ist man gegen Atomtests, weil die Folgen offensichtlich sind: Die Menschen sind erkrankt. Dennoch wurde niemals deutlich gesagt: „Wir wollen nichts mehr mit Atomwaffen zu tun haben.“ Jetzt wäre die Möglichkeit da, so etwas zu sagen. Aber auch in Kasachstan spielt man ganz offensichtlich mit dem Gedanken, die dort stationierten Atomwaffen als Faustpfand bei Verhandlungen mit Moskau zu benutzen, möglicherweise auch gegenüber rivalisierenden, anderen Sowjetrepubliken, und es ist vielleicht auch eine Eintrittskarte in den Salon der Atommächte.

Dies scheint auch bei der Ukraine der Fall zu sein. Sahen Sie denn in Kasachstan deutliche Tendenzen, den eigenen Staat zuallererst militärpolitisch zu definieren?

Ich vermute, daß es dort ähnlich wie in der Ukraine diskutiert und beschlossen wird. Ich bedauere diese Art der Diskussion, sehe aber auch die unerhörten Schwierigkeiten, vor denen diese Länder stehen. Es sind dort überall Russen in Schlüsselpositionen, aus Gründen russischer Großmachtpolitik, aber auch aus Militärraison oder Kompetenzgründen. Dies kann dazu führen, daß massive Spannungen zwischen den Nationen innerhalb einer Republik aufbrechen.

Wie erklären Sie sich denn, daß in Kasachstan, das ja doch durch die Tests sehr geschädigt wurde, nicht die Forderung nach Atomwaffen- Freiheit aufkommt? In der Ukraine wurde dies zumindest perspektivisch vom Parlament beschlossen.

Das hat uns auch überrascht. Daß dies nicht Satz Nummer eins ist: „Wir wollen mit Atomwaffen nichts mehr zu tun haben“, und Satz Nummer zwei dann lautet: „Wir müssen das Testgelände schließen.“ Sie machen es umgekehrt und lassen den zweiten Satz weg. Wir wurden skeptisch über die Motive. Es gibt dort zum Beispiel eine Stadt, die auf keiner Karte eingezeichnet ist. Sie heißt Kurtschatow, benannt nach dem ersten führenden Atomphysiker, der zu Stalins Zeiten das Atombombenprojekt leitete. Dort sind vorwiegend russische Spezialisten mit der Entwicklung von Atomwaffen beschäftigt. Die haben jetzt in Semipalatinsk keine Arbeit mehr, denn es wird keine Tests mehr geben. Aber sie machen lustig weiter und bereiten die nächsten Tests auf Nowaja Semlja (russisches Testgebiet im nördlichen Eismeer) vor.

Die Kasachen schlagen sich auf die Brust und tönen, sie haben einen Sieg errungen. Aber wenn die Tests anderenorts und zu Lasten einer anderen Bevölkerung weitergeführt werden, ist nichts gewonnen. Auch darüber haben wir gesprochen. In Kasachstan ist das notgedrungen als Problem akzeptiert worden. Im Vordergrund stand aber das nationale Moment. Das war für uns schwer verständlich.

Früher kontrollierte die Zentralregierung alles. Wer kontrolliert jetzt eigentlich wen?

Das ist offen. Die strategischen Waffen sind immer zentral kontrolliert worden per Geheimcode, der Gorbatschow während des Putsches abhanden gekommen sein soll. Also selbst da ist Skepsis angebracht, wer an diese Waffen kann. Die anderen Waffenkategorien unterliegen diesem Code nicht. Weitere Atomwaffen lagern in Belorußland, in der Ukraine und Rußland. Und jede der Republiken versucht, aus ihnen Verhandlungsmasse zu machen.

Gibt es gegen diese Inanspruchnahme des Militärischen dort kaum kritische Stimmen?

In Kasachstan ist die Situation besonders kraß. Das Land war ein getretenes, ständig erobertes Terrain, zuletzt von den Russen. Die Einheimischen haben schwer gelitten, nicht nur unter den Atomtests, sondern auch unter der Zerstörung ihrer kulturellen Identität. Das reichte bis zur physischen Vernichtung eines großen Teils der Gesellschaft. Man kann dann irgendwie verstehen, wenn dieser Staat seine Geschicke endlich selbst in die Hand nehmen will und den Eroberern die Zähne zeigt. Wir sehen ja in Jugoslawien, wie schnell das dann brennt und die Spannungen so stark werden, daß man das Gefühl hat, die Leute balancieren auf Messers Schneide. Eine eigene Armee und die Verfügungsgewalt über Atomwaffen ist dann umso gefährlicher.

Es wäre also praktisch möglich, daß die kasachische Regierung sich die Atomwaffen trotz der noch existierenden zentralen Verfügungsgewalt aneignen kann?

Ich befürchte das. Die zentrale KGB-Struktur war bisher für die Abschirmung der strategischen Atomwaffen zuständig und zum Schutz des ganzen Atomkomplexes. Dazu gehört auch der Schutz von waffenfähigem Plutonium, das dort in der Größenordnung von einigen hundert Tonnen vorhanden ist. Jetzt zerfallen die KGB-Strukturen, vor allem die Zentrale in Moskau. Aber die Republiken legen Wert darauf, ihre KGB- Strukturen zu erhalten. Man kann sich vorstellen, daß die taktischen Waffen, dieses Plutonium und arbeitslose Atomphysiker für bestimmte Staaten einen Leckerbissen darstellen.

Wissen Sie von konkreten Fällen, oder ist dies alles Spekulation?

Es geht durch die russische Presse, daß eine große Anzahl hochkarätiger Atomspezialisten praktisch vor dem Aus steht. Wir sahen das auch in Kurtschatow. Die hatten noch für einen Monat Lohn. Wenn irgend jemand kommt und vielleicht sogar Dollars anbietet, kann man sich vorstellen, was passiert.

Also hatten die Skeptiker im Westen während des Putsches recht, als sie um die Sicherheit der Atomwaffen fürchteten?

Das Zusammenspiel von zerfallender Macht, Sachkompetenz und spaltbarem Material sowie dem stark ausgeprägten Nationalismus im schlechtem Sinne verspricht eine hochexplosive Mischung. Leider wird das Thema bei den Bürgerbewegungen wenig deutlich artikuliert.

Wieviele Atomwaffen sind Ihrer Information nach in Belorußland gelagert?

Dort stehen nach Rußland die meisten. Exakte Zahlen fehlen mir.

Was Sie an Informationen aus Kasachstan mitbringen, klingt ziemlich pessimistisch.

Es gibt wenig Positives. Natürlich stellt die Schließung des Gebietes für Atomtests einen Erfolg dar. Aber es bleiben zu viele Fragen offen, die zumindest von der Bürgerbewegung gestellt werden müßten. Die Menschen dort haben die gleichen Probleme wie die von Tschernobyl. Sie sind vielleicht sogar noch stärker geschädigt. Der Slogan der Tagung war „Fünf minus Eins“. Es gibt fünf große Testgebiete in der Welt, Semipalatinsk war eines von ihnen. Auch die anderen müssen geschlossen werden.

Ich halte es für eine wichtige Aufgabe, den Bürgerbewegungen dort ein wenig Grundlagenwissen darüber zu vermitteln, daß nicht nur Atomtests, sondern Atomkraftnutzung überhaupt keine Chance haben dürfen. Interview: Andrea Seibel/

Bärbel Petersen

Der Atomphysiker Sebastian Pflugbeil ist Mitbegründer des Neuen Forums und des Vereins „Kinder von Tschernobyl“.