piwik no script img

Hofeinsichten — Hofansichten

■ Grischa Rüschendorf — Knuth Seim in der Galerie im Scheunenviertel

Zwischen der Wahrung authentischer Spuren und der Dekonstruktion des Bestehenden bewegen sich der Bildhauer Knuth Seim und der Fotograf Grischa Rüschendorf in ihrer Ausstellung HofAnEinsichten in der Galerie im Scheunenviertel. Die Spannung zwischen Dokumentation und ästhetischer Aneignung eines Ortes war für beide nicht geplantes Konzept: Dem jungen Neuköllner Fotografen ging es nicht in erster Linie um »Kunst«, als er begann, die Hinterhöfe des Scheunenviertels zu fotografieren, sondern er wollte ein Archiv anlegen, um das Gesicht des alten Viertels zu bewahren. Die expressive Verfremdung seiner Bilder entstand fast als ein technisches Nebenprodukt. Der Bildhauer Knuth Seim, der auf einem der Höfe lebt, beabsichtigte umgekehrt nicht, mit seiner Kunst Heimatkunde zu betreiben; eher zufällig fand er sein Material vor der Haustür.

Auf seinen Ostberliner Entdeckungsstreifzügen nach der Maueröffnung hatte Grischa Rüschendorf für Geschichte und Atmosphäre des Scheunenviertels und der Umgebung Feuer gefangen. In dem Bewußtsein, daß die letzten Fragmente der verdrängten und vernichteten jüdischen Kultur und die letzten Spuren des einstigen Arbeiterviertels bald der Verteuerung und Erneuerung des Stadtviertels zum Opfer fallen würden, pflanzte er seine Panoramakamera in über 80 Höfen auf und fotografierte. Ein Dutzend der Ansichten präsentiert er in der Ausstellung, darunter die Ruine des Tacheles in der Oranienstraße, Wohnhäuser am jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger, den Hof der Kunst-Werke Berlin e.V. Vielleicht, um nicht einer Ästhetisierung der oft angegriffenen und ruiniösen Bausubstanz zu verfallen, um nicht die abblätternden Fassaden zu romantisieren, drehte er seine Panoramakamera um 90 Grad und nahm so Segment um Segment der Mauern auf. Die perspektivisch verzerrten Streifen montierte er zu großen Fotos, in denen die Schnittkanten deutlich sichtbar bleiben: Da werden aus aneinanderstoßenden Mauern enge Kluften, Wände spalten sich, Hauskanten klaffen wie gotische Rippengewölbe auseinander und die Giebel der mehrgeschossigen Häuser neigen sich spitzzipfelig. So erinnert Rüschendorfs Scheunenviertel an das expressionistische Bühnenbild des jüdischen Ghettos in Paul Wegeners Film Golem. Die Bestandsaufnahme eines bestimmten historischen Momentes ist selbst schon wieder Kulisse geworden. Die Fotografien sind als Dokument einer Manipulation, eines interpretierenden Angriffs in die Architektur und einer subjektiven Aneignung der Geschichte zu lesen.

Betrachtet man Rüschendorfs Montagen, dann hat man die Kunst Knuth Seims schon unter den Füßen. Noch ehe man sie bewußt wahrnimmt, steht man schon mitten drin. Da seine Skulpturen zu hoch für die Galerie waren, entschied er sich für die Verwirklichung eines schon länger geplanten Entwurfes einer Bodenarbeit. Von dem, was schon immer unter unseren Füßen liegt, hat er Gipsabdrücke genommen und dunkelrot eingefärbt: Der Abdruck des Kopfsteinpflasters wirkt wie eine gigantische Bienenwabe, durch Reliefs von geteerten Flächen ziehen sich Gräben und Narben, die an die geologische Auffaltung großer Gebirge erinnern. Der größte Teil der Bodenfläche aber ist mit Mauersteinen ausgelegt: aus der regelmäßigen Fläche erheben sich drei brüchige Dämme, die sich bald als große, liegende Figuren erweisen. Die wulstigen Aufwerfungen aus dem rötlichen Stein, der selbst aus Erde gebrannt ist, scheinen anfällig, sich mit der Zeit wieder in Krümel und Staub aufzulösen. Die grobe Ausführung der mit angewinkelten Beinen liegenden Figuren aus den nackten Steinen läßt an eine archaische, eschatologische Stätte denken. Die begehbare Skulptur verändert die Vorzeichen ihrer Wahrnehmung, entzieht sich in ihrer Solidität und Funktionalität als Fußboden einer distanzierenden Auratisierung von Kunst. Unaufdringlich breitet sie ihre Geschichten aus. Katrin Bettina Müller

HofAnEinsichten , in der Galerie im Scheunenviertel, Weinmeisterstraße 8, montags bis freitags 14 bis 18 Uhr, bis 15. 11.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen