: Im Reich der Finsternis
■ Ein Beispiel für fehlgeleitete Verkehrsplanung ust das öffentliche Verkehrsnetz in New York. Veraltet und vergammelt rumpelt die U-Bahn durch finstere Bahnhöfe. Kein Wunder, daß die meisten New Yorker...
Ein Beispiel für fehlgeleitete Verkehrsplanung ist das öffentliche Verkehrsnetz in New York. Veraltet und vergammelt rumpelt die U- Bahn durch finstere Bahnhöfe. Kein Wunder, daß die meisten New Yorker den Dauerstau im Auto der Lebensgefahr in den öffentlichen Verkehrsmitteln vorziehen. VON EVA SCHWEITZER
S
'cuse me, ma'am“, sagte der dunkelhäutige Mann nachts um eins in der 30. Straße nahe der Madison Avenue, als ich gerade aus der U-Bahn kam, und: Ich möchte bitte nicht erschrecken, er sei zwar schwarz, aber kein Krimineller, sondern vielmehr obdachlos und schlafe normalerweise in der U-Bahn. Um durch die Sperre zu kommen, brauche er jedoch einen Token — eine runde Metallscheibe, die einen Dollar 15 kostet — ob ich ihm da nicht aushelfen könne.
Ich tat, was keine Touristin in New York tun sollte, schon gar nicht mitten in der Nacht in einer dunklen Gegend: Ich zückte meinen Geldbeutel — in dem sich neben Dollars Kreditkarte und Ausweis befanden —, um das Geld herauszusuchen. Dann drückte ich dem jungen Mann den Betrag in die Hand. Er bedankte sich, wünschte mir noch einen angenehmen Aufenthalt in den USA und entschwand. Was lernen wir daraus? Die U-Bahn in New York ist preiswert, fährt die ganze Nacht durch und ist das Notquartier der ca. 40.000 New Yorker Obdachlosen. Und nicht nur das: Durch die miteinander verbundenen Waggons strolchen Menschen aller Hautfarben, die selbstgemalte Bildchen verkaufen, Gitarre, Saxophon, Ghettoblaster oder Baßtrommel spielen, Zeitschriften für Obdachlose anpreisen, Geld für AIDS- Kranke sammeln, für Christus, Mohammed oder hygienisch einwandfreie Abtreibungen werben, darauf bestehen, daß die schwarze Rasse die wirklich jüdische sei oder einfach laut vor sich hinreden.
Die U-Bahn in New York ist eine Sehenswürdigkeit für sich. Sie hat gigantische Ausmaße, ist uralt, schmutzig, chaotisch, voller Räuber und Vergewaltiger und außerhalb der Rush Hour halbleer, denn die New Yorker fahren lieber mit den vergleichsweise preiswerten Taxis, die in ihrem aufdringlichen Gelb etwa die Hälfte der KFZ-Population in den schmalen Straßen Manhattans stellen, oder sie gehen zu Fuß.
Daß kürzlich ein mit Crack vollgepumpter U-Bahnfahrer vier Stationen durchbretterte, schließlich gegen einen Pfeiler raste, mehrere Tote und Hunderte von Verletzten produzierte und dabei den Union Square fast zum Einsturz brachte, paßt ins Bild.
1904 wurde mit einer silbernen Schaufel der erste Spatenstich getan für die „Lexington-Line“ unter der Lexington Avenue im Osten Manhattans. Andere Strecken folgten, die zumeist parallel unter den längs durch Manhattan verlaufenden Avenues gebaut wurden und über weitläufig verzweigte Fußgängertunnel miteinander verbunden sind; letzteres liegt daran, daß die Linien von konkurrierenden privaten Betreiberfirmen errichtet wurden, die sich gegenseitig den Umsteiger nicht gönnten.
Heute hat das New Yorker U- Bahnnetz 367 Gleiskilometer und dürfte damit zu den größten der Welt zählen. Vom nördlichsten Punkt — die 241. Straße in der Bronx — bis zum südlichsten — der Rockaway Park in Brooklyn — fährt man über drei Stunden. Die Züge haben doppelt so viele Waggons wie die in Deutschland, die Wagen sind größer, die Tunnel breiter und die Bahnsteige länger. Auf 22 Linien legen die 6.424 Waggons jährlich vier Milliarden Kilometer zurück und befördern dabei über eine Milliarde Passagiere unter den Hochhäusern Manhattans und dem gewaltigen East River hindurch, über die Sumpflandschaft der Jamaica Bay und — als Hochbahn — zwischen den Slums der South Bronx.
Nur buntbemalt sind die Wagen nicht mehr: Nachdem die U- Bahngesellschaft Metropolitan Transit Authority (MTA) ein neues Reinigungsmittel anschaffte, glänzen sie wieder silbern und rot. Tief unter der Erde, dort, wo die Stationen wie Gruften wirken, ist die U-Bahn eher gruselig denn beeindruckend. Angeschlagene, teils chinesische Mosaikinschriften aus der Zeit der Jahrhundertwende sind oft kaum noch zu entziffern. Manche Stationen sind nur mit Grubenlampen beleuchtet, oder die Eingänge sind zugemauert. Treppen und Decken sind marode, und wenn es stark regnet, tropft das Wasser gelegentlich bis auf die unterste Ebene. Im Film-Klassiker Der Planet der Affen finden Held und Heldin einen völlig verrotteten U-Bahnhof „Queensboro Plaza“ (realiter übrigens eine Hochbahnstation). Der Film visioniert New York nach dem Atomkrieg — aber sehr viel besser sehen einige Bahnhöfe auch jetzt nicht aus.
Vor allem die langen dunklen Verbindungsgänge machen schaudern. Denn der schlechte Ruf der New Yorker U-Bahn rührt vor allem daher, daß dort sogenannte Mugger ihr Unwesen treiben. Das sind Leute, die anderen die Brieftasche, den Schmuck, die Uhr oder die Kreditkarte rauben. Die 'New York Times‘ meldet täglich, daß Menschen auf einer der geisterhaften Stationen ausgeraubt oder niedergestochen wurden. Im April dieses Jahres wurde eine Frau in einem Verbindungsgang am Times Square mitten am Tag vergewaltigt. Der Täter zerrte sie hinter einen Haufen Baumaterials, und keiner der zahlreichen vorbeieilenden Passanten kümmerte sich um ihre Schreie. Daraufhin schloß die MTA eine Reihe von besonders verwinkelten Verbindungen und wenig genutzten Eingängen — zur besseren Überwachung fehlen Geld und Personal.
Daß die U-Bahn so heruntergekommen ist, liegt daran, daß die Stadtverwaltung unter dem früheren Bürgermeister Ed Koch anfangen mußte, gewaltig zu sparen. Zwischen 1977 und 1981 wurde ein Drittel der 300.000 stätischen Angestellten entlassen, der Etat für U-Bahn-Reparaturen drastisch zusammengestrichen. Diese Politik kürzte vor allem die staatlichen Leistungen, die den ärmeren New Yorkern zugute gekommen waren. So wurden etwa zu Stränden, die „besseren Kreisen“ vorbehalten bleiben sollten, keine städtischen Busse mehr eingesetzt.
Nicht zuletzt wegen des drohenden Zusammenbruchs der sozialen Infrastruktur ziehen mehr und mehr New Yorker aus ihrer Stadt weg. Der Koch-Nachfolger David Dinkins, New Yorks erster schwarzer Bürgermeister, versprach im Wahlkampf Besserung. Kleine Anzeichen davon sind schon zu sehen: Während sich die weltweit bekannte selbsternannte Überwachungstruppe „Guardian Angels“ eher rar macht, sieht man seit einem knappen Jahr öfters Polizisten durch Züge und Bahnhöfe schlendern. Seitdem läuft auch eine Plakatkampagne unter dem Motto: „We'll come back, so you come back“. Die Stadt wirbt, auch auf spanisch, damit, daß sie schon Hunderte von Millionen Dollar in die Renovierung von Gleisen und Bahnhöfen gesteckt habe — mag sein, aber wie die dann vorher aussahen, mag die sensible Reisende lieber nicht wissen.
Die preiswerte Alternative zur U-Bahn ist — neben Taxi — der Bus. Die 4.568 New Yorker Busse fahren ebenfalls für einen Token nicht nur die Avenues hoch, sondern auch quer dazu durch die Straßen. Während die Busfahrt für Touristen schon wegen des Ausblicks eine hohe Erlebnisqualität hat, ist ihr Gebrauchswert zumindest tagsüber stark eingeschränkt, da die Busse meist im Stau stecken. Nachts mit dem Bus zu fahren, ist zweifelsohne sicherer als mit der U- Bahn, aber frau sollte in dunklen Gegenden nicht alleine auf den Bus warten.
Die schönste U-Bahnstrecke überquert die Manhattan Bridge. Dort, am Rande von Chinatown, taucht die Bahn aus der Erde auf und rumpelt neben den Autos auf der hochgeschwungenen Brücke über den East River. Gen Süden erstreckt sich die Brooklyn Bridge, dahinter die Hochhäuser der Wall Street, das World Trade Center und, weiter hinten, die Freiheitsstatue. Die Bahn fährt oberirdisch weiter zwischen den niedrigen Häusern, Lagerhallen und Tankstellen Brooklyns.
Neben mir sitzt ein dunkelhäutiger Mann aus Mexiko oder der Karibik, gegenüber eine junge Chinesin mit einem kleinen Jungen, der höchstens zwei Jahre alt sein kann. Der Junge hält ein Maschinengewehr aus Plastik in seinen Patschhändchen. Wenn man am Abzug zieht, glüht ein Licht auf, und das Maschinengewehr rattert leise, fast echt. Die Mutter macht es dem Kleinen vor; einmal, zweimal, dreimal glüht und rattert es. Endlich hat er es begriffen, zieht selber am Abzug, zielt ratternd auf den Mann gegenüber und strahlt ihn an, glücklich darüber, das Geräusch und das Glühen erzeugen zu können. Auch der Mexikaner lächelt den kleinen Chinesen an, mit einem beifälligen Ausdruck. A man was born.
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