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Abstrakte Formenwelt

■ Informelle Malerei aus vier europäischen Ländern im Rathaus Tempelhof

Die Vielfalt der Möglichkeiten ist im heutigen Kunstbetrieb eine Qualität für sich. Die Ausdrucksmittel sind, so scheint es, erschöpft. Neu ausgerufene Trends, wie die wiedererstarkte Konzept- Kunst, entpuppen sich beim näheren Hinsehen als Reprisen früherer Strömungen.

Heute existieren die verschiedensten Kunstrichtungen gleichberechtigt nebeneinander — nichts geht mehr. Oder besser: alles geht. Die Wahl der Mittel allein garantiert keine Originalität mehr.

Daher ist auch gegen eine Schau zeitgenössischer informeller Malerei von vornherein nichts einzuwenden. Die informelle Malerei, die vor knapp fünfzig Jahren in Paris entstand und als deren Vorreiter der 1951 gestorbene Berliner Fotograf, Zeichner und Maler Wols gilt, ist in ihrer Hinwendung zum gegenstandslosen und doch bewegten, oft quasi religiös- kosmographischen Bild durch den Esoterik-Boom aktueller denn je.

Obwohl der revolutionäre Zug an dieser Malerei längst abgenutzt ist, bietet die abstrakte Formenwelt und der Reiz des malerischen Materials auch heute noch KünstlerInnen ein weites Arbeitsfeld.

Einen Ausschnitt daraus zeigt derzeit das Kunstamt Tempelhof in der Galerie des dortigen Rathauses. Unter dem Titel Gegenwelten vereint die Ausstellung vier europäische KünstlerInnen, die zu einer Zeit geboren wurden, als die informelle Malerei bereits den Status der Avantgarde verloren hatte. Und die Präsentation offenbart eine Gefahr, die dieser Kunstrichtung schon seit jeher eigen war: das Abgleiten in die Beliebigkeit. Die Bilder werden austauschbar.

Der Berliner Christian Heinrich klebt ausgerissene Papierstreifen auf locker und duftig grundierte Leinwände, die er dann weiter bemalt, sie in schneller Bewegung bespritzt oder die dünne Farbe einfach laufen läßt. Doch bei Heinrich verkommt der gewalttätige Impetus, den man hinter einer solchen Malweise vermuten kann, zur geschmäcklerischen Pose. Morbidität und Verfall münzt der Künstler in bedeutungslose Schönheit um. Seine Gemälde sind nur noch unterschiedlos hübsch. Dazu kommt die Austauschbarkeit der Bildtitel. Man könnte die kleinen Waschzettel neben den Arbeiten einsammeln, mischen und neu verteilen, ohne daß den einzelnen Bildern ein Schaden entstünde. Ob nun Ephesus oder Klangformationen bleibt sich hier letzendlich gleich.

Einen ähnlichen Charakter tragen die Arbeiten des russischen Malers Gleb Bogomolov. Bogomolovs Gemälde funkeln und schimmern, ohne über ein Funkeln und Schimmern hinauszugehen. Der Künstler hat unzählige, hauchdünne Gold- und Silberplättchen auf die Leinwand aufgetragen und diese später mit Farbe betropft. Daneben tauchen als gegenständliche Elemente Versatzstücke aus dem Konstruktivismus auf: geometrische Zeichen, meistens Pfeile, die in keiner erkennbaren Verbindung zu ihrer Umgebung stehen.

Die kunstgeschichtlichen Zitate präsentieren sich sinnentleert als Teil einer optisch gefälligen Komposition. In seiner Heimat freilich nimmt Bogomolov mit seinen Arbeiten dem doktrinären sozialistischen Realismus gegenüber eine Ausnahmestellung ein, die kritisches Potential erahnen läßt. Zu sehen ist es allerdings nicht, und so haben die Gemälde für westliche Augen einen eher geschichtlichen Wert.

Auch der Franzose Pierre-Marie Brisson kombiniert informelle Farbwelten mit gegenständlicher Darstellung. Aus den immer gleich erscheinenden Malschichten des Hintergrundes kristallisieren sich stilisierte Umrisse menschlicher Figuren heraus. Sie entwickeln jedoch keine eigene Kraft. So bleiben Brissons Bilder einer gefälligen und banalen Austauschbarkeit verhaftet.

Allein die Arbeiten der Mailänderin Chiara Colombo fallen aus dem Rahmen. Ihre Bilder entfalten eine Wucht und Eigenart, die sich in die Erinnerung einschreibt. Colombo sprengt die zweidimensionale Bildfläche, indem sie an ihren Gemälden raumgreifende Geflechte aus dünnen Ästen und Draht befestigt. Die dreidimensionalen Applikationen nehmen die Formen der gemalten Linien und Wirbel auf und erhöhen deren Intensität und unmittelbare sinnliche Erfahrbarkeit.

So erlangen Colombos Arbeiten eine inhaltliche Konzentration, die durch den spärlichen Einsatz der Mittel noch gesteigert wird und sich in Bildern, wie den beiden Versionen der Verkündigung, auf eine nahezu physisch bedrohliche Weise entlädt. Damit sorgt Chiara Colombo für die Störfaktoren in einer Ausstellung, in der ansonsten ein gefälliges Äußeres mit seiner ganzen Beliebigkeit herrscht. U. Clewing

Gegenwelten. Vier europäische Informelle. Rathaus Tempelhof, bis 24.November, 8 bis 18 Uhr.

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