: Telenovelas — Kitsch für die Welt?
Lateinamerikanische Fernsehserien erobern weltweit das Publikum „Vale Tudo“ aus Brasilien kommt einmal täglich in der ARD ■ Von Gila Klindworth
Vale Tudo — Um jeden Preis heißt eine brasilianische Telenovela in 170 Kapiteln, die jetzt im Nachmittagsprogramm der ARD beginnt. Nachdem die Sendeanstalt 1987 mit Sinha Moca überraschend hohe Einschaltquoten erreichte, kaufte sie gleich weitere brasilianische Produktionen und läutete damit auch in unserem Land den Vormarsch der lateinamerikanischen Fernsehserien ein. Dabei sind Telenovelas für viele der Inbegriff der Schnulze und unerträglich anzuschauen.
Seit der ersten Ausstrahlung von Telenovelas in der Bundesrepublik vor knapp fünf Jahren sind es heute drei Sender, die die mexikanischen und brasilianischen Fernsehgeschichten senden. RTL strahlte 1990 eine der erfolgreichsten mexikanischen Telenovelas, Die wilde Rose, aus und bringt nun mit Der Clan der Wölfe einen weiteren Publikumserfolg. Tele 5 begann mit der Ausstrahlung moderner brasilianischer Dauerserien im Nachmittagsprogramm.
Das in unserem Fernsehen recht neue Genre, das hier verhältnismäßig zögernd beginnt, hat vor allem in Lateinamerika schon eine lange Geschichte. Von US-Firmen in den fünfziger Jahren in die neuentstehenden Fernsehstationen in Lateinamerika gebracht, verselbständigte sich die Soap-Opera-Produktion schon bald. Vor allem in Brasilien und Mexiko, wo große Fernsehkonzerne entstanden, wurde — in Mexiko seit Ende der fünziger und in Brasilien ab Ende der sechziger Jahre — eine eigene Entwicklung der Fernsehserien vorangetrieben.
In beiden Ländern unterscheiden sich die Telenovelas von den US-Soaps vor allem dadurch, daß sie nicht unendlich lange Geschichten erzählen, sondern ihre Novelas nach etwa 160 Kapiteln zu Ende gehen. Ein weiterer Unterschied ist die inhaltliche Anpassung an die lateinamerikanische Realität, auch wenn mit der Zeit einige Elemente, wie z.B. „Sex and Crime“, aus den US-Serien übernommen wurden und auch die „Moral von der Geschicht“ häufig darin besteht, daß individuelle Anstrengung und menschliche Qualitäten zu Wohlstand und Glück führen und Polizei, Gesetz und das Schicksal für eine gerechte Bestrafung der Bösen sorgen. In Brasilien kommt darüberhinaus in den letzten Jahren die Einbindung von Show-Elementen hinzu. Außerdem hat die brasilianische Spielart dadurch große Beliebtheit erlangt, daß in ihr von vielen Telenovela-MacherInnen Gesellschaftskritik unterschwellig eingebaut wurde, da die offene Thematisierung von sozialen und politischen Problemen durch den Fernsehkonzern verboten wurde (daran änderte auch der Übergang von der Militärregierung zur parlamentarischen Demokratie nicht viel).
Ähnlich wie in den USA werden in Brasilien die Kapitel der Novela geschrieben und gedreht, während die Ausstrahlung schon läuft. Doch mehr noch als bei den US-Serien werden die Publikumsreaktionen in die Geschichten einbezogen. Hierfür baute der Fernsehkonzern Tele- Globo, das viertgrößte Fernseh-Network der Welt, eigens eine Forschungsabteilung auf, die kontinuierliche Begleitforschung betreibt. Nachdem die ersten 15 Kapitel gesendet worden sind, wird der weitere Handlungsverlauf nach den Durchschnittswünschen der Befragten gestaltet.
Nicht zuletzt durch die bis zur Perfektion getriebene, absatzorientierte Telenovela-Produktion konnte sich O'Globo zum mächtigsten Medienunternehmen Brasiliens und schließlich zum weltweiten Programmexporteur entwickeln, obwohl der Konzern erst 1965 zu senden begann.
Vom Telenovela-Fieber werden vor allem die armen Volksmassen, aber auch Menschen aus anderen sozialen Schichten gepackt. Manch sagenhafte Geschichte gibt es über die Publikumsreaktionen zu erzählen: Parlamentssitzungen und andere Versammlungen werden frühzeitig beendet, um pünktlich zum Novela- Beginn zu Hause zu sein, die DarstellerInnen der SchurkInnen in den Geschichten werden auf der Straße beschimpft und verprügelt. Heftige Ehestreitigkeiten entbrennen, wenn die Frauen durch die Novelas vom Essenkochen abgehalten werden. In Brasilien werden Verabredungen häufig nicht mehr nach einer Uhrzeit vereinbart, sondern man sieht sich „nach der 8-Uhr-Novela“; — solche Geschichten sind den Fernseh-Konzernen gerade recht, beweisen sie doch ihren Erfolg.
Viele KritikerInnen lassen sich von diesen spektakulären Stories dazu verleiten, die Telenovela als „Droge für die Armen“ und Entfremdungsmechanismus Nr. 1 zu bezeichnen. Zwar ist es richtig, daß die Novelas durch ihre tägliche Ausstrahlung zu einem Teil des alltäglichen Lebens geworden sind. Auch beklagen viele ZuschauerInnen, daß sie — haben sie einmal mit dem Sehen einer Geschichte angefangen — nicht mehr davon loskommen. Andererseits sind gerade die Menschen aus den ärmeren Schichten sehr wohl in der Lage, die Fiktion von der Wirklichkeit zu trennen. Und solange die Ursachen für ihre „kleinen Fluchten“ nicht beseitigt sind und bessere Märchen nicht zur Verfügung stehen, wird es schwierig sein, über ihre rosaroten Träume den Kopf zu schütteln.
Eine einstimmende Dokumentation ist heute um 16.30Uhr in der ARD zu sehen. Vale Tudo startet am Dienstag, den 5.11., 16.35Uhr und kommt künftig montags bis donnerstags einmal täglich um 16.30Uhr im Ersten.
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