Quietschende Trommelfelle

■ Alexander Schlippenbach und Paul Lovens in der Kreuzberger »Küche«

Sonntag nachmittag fand in der »Küche« in der Reichenberger Straße im tiefsten Kreuzberger Kiez eine Free-Jazz-Matinee statt. »Die Küche«, in Insider-Kreisen seit langem als Spielort derartiger Musik bekannt, erhielt diese Saison zum ersten Mal finanzielle Unterstützung vom Senat und ist damit in der Lage, in dem wirklich als Küche einer Fabriketage genutzten Raum ein regelmäßiges Konzertprogramm zu bieten.

So war wieder einmal das Klavier- Perkussion-Duo von Alexander von Schlippenbach — bisweilen als Vater des europäischen Free-Jazz-Pianos gelobt — und Paul Lovens, ebenfalls einem Improvisationsmusiker der ersten Stunde, in Berlin zu hören. Nach obligater halbstündiger Jazzmusiker-Verspätung begann das Konzert, Schlippenbach traktiert das Piano in wilder Manier, spielt sich erst einmal warm — bevor der Kopf nicht hochrot und die kurzgeschorenen Haare nicht schweißnaß sind, geht's noch nicht zum wesentlichen — und Lovens hält fleißig mit. Nach klassisch durchpulstem Free-Spiel mit traditionell sauber aufgebauten Kulminationspunkten geht's dann zum Eigentlichen.

Zusehends gerät Schlippenbachs Klavierspiel nach virtuosen Clustereinlagen, Ausbrüchen und seinen stark haptisch inspirierten Akkordketten in die Nähe Thelonius Monks. Septimen- und Terzschiebungen klingen an, bis es dann endlich soweit ist: Epistrophy wird neben anderen Monk-Klassikern zitiert und schon mal zwei, drei Chorusse durchgespielt, bevor es wieder in freiere Welten geht. »O Duft aus alter Märchenzeit!« hatte Schlippenbach, in einem 'Zeit‘-Interview auf solcherlei Rückbesinnung angesprochen, aus Schönbergs Pierrot Lunaire zitiert. Lovens hingegen ist weniger nostalgisch, zwar rutscht ihm da gelegentlich beim Zitatenmix seines Kollegen ein verschmitztes Lächeln in die Mundwinkel — aber er läßt sich selten musikalisch drauf ein. Vielmehr legt er in eleganter Weise perkussive Klangketten obendrauf oder greift schon mal ironisch ins Geschehen ein, indem er geriebene Trommelfelle zum Quietschen bringt.

Insgesamt eine merkwürdige Entwicklung bei der ersten europäischen Free-Jazz-Generation: Ihre Musik ist längst Stil geworden; wenn im Neue-Musik-Konzertführer als Programm der »Küche« steht, die Musik verhalte sich subversiv im Zerstören jeglicher Regeln und in der Negierung festgeschriebener musikalischer Lösungen, stimmt das hier seit langem nicht mehr.

Schlippenbach jedenfalls befindet sich längst auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung, neben den Monk-Remineszenzen gibt's dann auch Ragtime-Bässe, hin- und hergerollte Cecil-Taylor-Akkorde und gar melancholisch-kontrapunktische Ballädchen.

Erstaunlich, daß die Musik trotzdem nicht verflacht, sondern eher noch an Dimension gewinnt — besonders durch Lovens, der äußerst sublim der Tränendrüsen-Gefahr entgegenspielt und oft heimlich bestimmend eingreift.

In schön-intimer Sonntagnachmittag-Atmosphäre war es ein spannendes Konzert zweier alter Hasen, die scheinbar keine musikalischen Neuerungen mehr suchen, aber das Wagnis eingehen, in die Vergangenheit zu schauen. Es war kein Blick zurück im Zorn.

»Die Küche« hingegen blickt hoffentlich einer rosigen Zukunft entgegen, das Programm setzt erst mal weiterhin auf bewährte Free-Jazz- Größen: Am 13. November gibt's, diesmal abends, das sicherlich spannend werdende Zusammentreffen des Ostberliner Posaunisten Conny Bauer mit der sibirischen Sängerin Sainho Namchilak, die sich ja erst kürzlich beim Festival »Urbane Aboriginale« in Berlin vorstellte. Marc Maier