Zeitenwende — Wendezeiten

■ Baden-Badener Disput zum Thema Nationalismus, Sa., 2.11., SWF3, 21.50 Uhr

Unter charmanter Leitung von Adolf Muschg stellte sich der Baden-Badener Disput die Frage „Nationalismus — Die Rückkehr einer Ideologie von gestern?“ Die Spanne der Meinungen zum neuen Nationalismus, der aus Osteuropa herüberweht, war groß. Auf der einen Seite Alfred Grosser: Er verstünde nicht, wieso ein Russe oder Pole mit deutscher Urgroßmutter mehr mit Deutschland zu tun haben solle als ein in der Bundesrepublik geborener, deutsch sprechender Türke. Der belgische Trotzkist Ernest Mandel lobte die internationale Arbeiterbewegung und sprach sich gegen die neuen Nationalismen in Osteuropa aus: „Man kann den Nationalismus in Osteuropa überhaupt nicht entschuldigen, wenn er in dem Moment, da er die Macht übernimmt, dieselben Unterdrückungsmaßnahmen in Kraft setzt, gegen die er angetreten war.“ Und Michael Stürmer, der CDU nahestehender Historiker, tönte: Ethnisch reine Staaten in Ost- und Mitteleuropa werde es nicht geben, das sei eine Illusion.

Dagegen fand der deutsch-polnische Germanist aus Warschau, Karol Sauerland, äußerlich eine Mixtur aus Rasputin und Solschenyzin, den Nationalismus in Osteuropa positiv. Besonders wenn man sich die vielen fremden, asiatischen Gesichter in den Sowjetgremien anschaue. Stürmers Hinweis, eine große Grenzdiskussion dürfe, selbst wenn das Erstehen neuer, kleiner und großer, Nationalstaaten nicht mehr zu verhindern sei, auf keinen Fall losgetreten werden, wollte er nicht gelten lassen, und bemühte als Beispiel Moldawien. Zusammen mit Sauerland am andern Ufer: die Grüne Antje Vollmer. Das neue Denken für Europa komme aus dem Osten. Der Westen sei der Bösewicht, der die Kleinen unterdrücke und den Imperialismus befördere. Und dann die Krönung: gegen Mandels naive Emphase der internationalen Gewerkschaftsbewegung, Frau Vollmers Diktum, der Sozialismus habe die Arbeiter der Heimat beraubt.

Haben wir das nicht schon einmal gehört? Wenn dem Arbeiter mit der Heimat jener „heilige Schauer der frommen Schwärmerei“ (Marx) zurückgegeben werden soll, die der Kapitalismus zugunsten des gefühllosen Tauschverhältnisses aufgelöst habe, dann müßten Alarmglocken schrillen. Spannend war der Abend und lehrreich: Der Freiheit „natürlicher Platz“ ist bei dieser Art Grünen und bei jener Sorte neuer Intellektueller aus Osteuropa mit Sicherheit nicht. Ein Europa der Nationalismen oder Regionalismen als Utopie: zum Davonlaufen. Ulrich Hausmann