: Crash-Kurs in Kontrasten
Beobachtungen vom Jazzfest '91: Beziehungsgeflechte und Spaßguerilla ■ Von Carlo Ingelfinger
Um Allerheiligen kann sich jeder, der will, in Berlin die Scheuklappen von den Ohren pusten lassen. Das Jazzfest zwingt in ein paar Tage so viel an gegensätzlicher Musik, daß Hörgewohnheiten umgestürzt werden, auch in einem letztlich enttäuschenden Programm wie diesem. Daß völlig unterschiedliche musikalische Konzepte im selben Konzert zusammengefaßt werden, kann frustrieren, aber auch zu einem Crash-Kurs in Kontrasten werden.
Festivalleiter George Gruntz bot wie üblich Schwerpunkte und griffige Schlagworte zur Einordnung. Fundiert war die Vorstellung der reichhaltigen Musikszene Chicagos; dagegen wohl eher eine Verlegenheitslösung der Begriff „contempo control“ (wenn ich mich recht erinnere), mit dem Gruntz suggeriert, daß er auch aktuellste Entwicklungen der unübersichtlichen Szene im Griff zu haben glaubt. Auch zwei Projekte Berliner Musiker unterstützte das Jazzfest in diesem Jahr finanziell. Beispielhaft prallten die Welten Chicagos und Berlins genau am Allerheiligenabend, dem Freitag, aufeinander. Es rieben sich Klangexperimente an souveränen Bigbandarrangements, kühle neue europäische Musik in weiträumigen Kompositionen, die einer sich emotional entwickelnden Solistik Raum geben.
Abrams: Schleuderkurs in Eklektik
Im „Haus der Kulturen der Welt“, der Kongreßhalle, die statt der asbestösen Philharmonie ein angemessenes Exil für das Jazzfest war, spielte Muhal Richard Abrams. Er war 1965 Mitbegründer der „Association for the Advancement of Creative Musicians“ (AACM), einer immer noch bestehenden und erfolgreichen Selbsthilfeorganisation schwarzer Musiker, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, daß Chicago ein so bedeutendes Zentrum des neuen Jazz wurde und geblieben ist. Abrams' Motto: „Das einzige, was sicher ist, ist der Wechsel.“ Er lebt es vor: Seine Arbeit reicht von Solopiano- Recitals bis zur symphonischen Komposition. Nach Berlin kam er mit einer konventionell besetzten Jazzbigband, deren Mitglieder im ersten, gemäßigt vor sich hinswingenden Stück in kurzen Soli ihre musikalischen Visitenkarten abgaben. Doch dann erteilte Abrams einen überzeugenden Schleuderkurs in Eklektik — aus einer Kollektivimprovisation riß er die Band in einen modernen Ragtime, läßt daraus mit Synthi-Klavier und Flöten ein flächiges Klangemälde entstehen, das wiederum von einer surrealen marching band abgelöst wird. Aus der konventionellen Bigband (mit kompetenten Solisten) ist der Klangkörper des einfalllsreichen Komponisten Abrams geworden, den er zurückführt zum Ausgangspunkt, dem einer modernen Bigband mit Anklängen an Gil Evans.
Aber zurück: In ein riesiges, unordentliches Klanglaboratorium versetzt fühlte ich mich während des überlangen Sets der siebenköpfigen Gruppe um die in Berlin lebende Saxophonistin und Komponistin Sibylle Pomorin und die New Yorkerin Terry Jenoure (Stimme, Geige, Komposition). Ihr mühseliges „Songprojekt“ mit akustisch oft schwer verständlichen Texten der amerikanischen Lyrikerin Anne Waldman war überfrachtet mit Experimenten. Es gab fesselnde Momente: Gitarrengewitter des herausragenden Solisten Christy Doran über dem Funk-Baß von Kim Clarke, heulende Rückkoppelungen, Pomorins explosives Tenorsax und ihre flirrende Flöte, wozu Jenoure ausdrucksvoll den Traum der New Yorkerin vom Wald in Kentucky rezitiert; Stakkato-Kollektive von Violine, Trompete (Herb Robertson), Posaune (Annie Whitehead) und Violine führen zu Sounds an der Schmerzgrenze. Doch die Momente zerbröseln folgenlos, ihre sprunghafte Vielzahl sprengt ihren Zusammenhang.
Ullmann: Musik für den Kopf
Um Mitternacht, nach dem Umzug ins Delphi-Kino, stellt dann der vielseitige Berliner Reed-Mann Gebhard Ullmann sein Projekt Tá Lam 6 vor, Kompositionen für sechs Saxohonisten/Klarinettisten, von denen Hans Hassler auch Akkordeon spielt: strenge Kompositionen, abstrakt, kühl und diszipliniert. Beherrscht und abgezirkelt auch die Soli, die sich im engen Rahmen der Stücke entwickeln. Ullmann verweigert in diesem Projekt — deutlich unterschieden von seinem Spiel in anderen Bands — dem Hörer den leichten Zugang. Musik für den Kopf.
Keine Angst vor Emotionen haben die ihm folgenden „8 Bold Souls“ aus Chicago: Die sparsamen, aber durchaus nicht schlichten Arrangements ihres spiritus rector und Abrams-Schülers Ed Wilkerson sind weit angelegt, bieten Raum und Zeit für die Solisten, ihre Soli zu entwickeln. Sie arbeiten sich mit repetitiven Phrasen vorwärts. In Ornette Colemans Lonely Woman spielt sich Mwata Bowden zwischen langgezogenen Baß/Cello-Interplays vor wirbelnden Rhythmen Dishan Mosleys in einen dramatischen Exzeß auf dem Baritonsax; in Sideshow ist er ein Schlangenbeschwörer auf der Klarinette. Wilkerson selbst bläst ein coltraneskes Tenorsax, Trompeter und Flügelhornist Robert Griffin duettiert mit sich selbst, beide Instrumente abwechselnd oder auch zugleich blasend. Eine Band, die mit Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein in sich ruht, Musiker, die ihre Fähigkeiten kennen, und ihre Grenzen.
Ein weiteres abenteuerliches Abendprogramm brachte am Samstag die Klangzauberei des John McLauhlin Trios und den — nennen wirs mal so — Happy Heavy Metal Jazz des Hal Russell NRG (sprich's: „En-er-gie“) Ensembles zusammen. McLaughlin, Dominique di Piazza und Trilok Gurtu spielten wie in einem magischen Dreieck, in einem feinen, aber unzerstörbaren Beziehungsgeflecht hochmusikalisch und hochdifferenziert aufeinander eingehend, makellos und fließend Jazz, Konzertantes, indische, brasilianische und Flamenco-Einflüsse bis hin zum harten Blues in feinabgeschatteten Nuancen verbindend — nicht in sanften Ästhetizismus, sondern mit kraftvoller Attacke. Ein umjubelter Höhepunkt.
Russell: Schmelzwerk
Hal Russell aus Chicago (drums, Trompete, Saxophon) ist ein 64jähriger, weißbärtiger, bebrillter sanfter alter Herr, der sich und sein Quintett junger weißer Multiinstrumentalisten auf der Bühne in ein brüllendes Klangkraftwerk verwandelt. Er und Tenorist Mars Williams — Schlapphut, schwarzer Mantel, schwarze Stiefel — engagieren sich in röhrenden, splitternden, knirschenden Saxophonschlachten, schattenhaft tauchen Themen auf und verschwinden wieder. Die Stücke und Improvisationen sind kurz, laut und erschreckend. Dreimal schleudern sie die Sounds von Ayler/Sanders/Coltrane in die Kongreßhalle, dann formiert sich die gleiche Gruppe mit gleicher Energie als musikalische Spaßguerilla: ein jaulender Dixie, eine fiepsige Hommage an ein Sexidol vergangener Zeiten: Durch eine riesige Flüstertüte jammert Hal einen alten Filmsong, während Mars ihn aus einem Plastik-Kindersax mit Seifenblasen überblubbert. Die Schnulze Carolina Moon ist plötzlich Punkjazz mit schneidenden Kanten. Jedwedes Material kondensiert die Gruppe in ihrem dröhnenden musikalischen Schmelzwerk zu höchster Dichte.
Mingus: Getränkt mit Tradition
Herz und Seele der Chicagoer Szene und der AACM ist das „Art Ensemble of Chicago“. Seit 25 Jahren machen sie den wunderschönsten Lärm des neuen Jazz, verweben Polyrhythmik, Improvisation und Komposition, Impressionismus und Expression. Geschminkte Gesichter, farbenprächtige Gewänder, jede Menge Rhythmusinstrumente und Hupen, Muscheln, Glocken, Gongs machen ihre Auftritte nicht nur zu akustischen, auch zu optischen Erlebnissen.
Ihre Musik hat nichts an Schönheit, wohl aber an Überraschung und Spontaneität verloren. Einiges davon gewann sie zurück, als die Gruppe „Brass Fantasy“ zu ihnen stieß, die Art-Ensemble-Trompeter Lester Bowie schon vor rund zehn Jahren gegründet hat und die sich, manchmal persiflierend, auf die Tradition schwarzer Popballaden bezieht. Mit The Great Pretender der Platters gaben sie eine verschmitzte Zugabe. Mit ihren knalligen Blechbläsersätzen, dem hart treibenden Schlagzeug von Vinnie Johnson und den weichen Harmonien eines Stückes für Art Ensemble und Brass Fantasy von Roscoe Mitchell fügten sie dem Art Ensemble neue Dimensionen hinzu. Fragwürdig dagegen empfand ich die Hinzunahme des sechsköpfigen Zulu-Chors „Ambutho“, dessen Mitglieder in London leben. Tanzend, albernd, fellbehängt und nacktbäuchig sangen sie traditionelle Zulu/Ndele-Choralmusik und von ihr beeinflußte Neukompositionen. Ihr Gesang mischte sich kaum mit der Musik des Art Ensembles, ihr Versuch, das Publikum zum Tanz auf der Bühne zu bewegen, endete desaströs.
Am Beginn des Jazzfests hatte der musikalische Nachruf des großen Bassisten Charles Mingus auf sich selbst gestanden: Epitaph. Mit diesem Werk wollte er die Summe seiner Musik, seines Lebens ziehen. Das vor fünf Jahren im Nachlaß gefundene riesige Konglomerat der Partitur für 31 Musiker adaptierte und edierte der Komponist und Mingus-Kollaborator Gunther Schuller für die Uraufführung 1989. Er dirigierte jetzt auch in Berlin eine, zumindest im Wiederholungskonzert, leicht gekürzte Fassung. Mingus' magnum opus entfaltet über weite Strecken berückend die düsteren Klangfarben einer melancholischen und rebellischen, von Blues, Gospel und Jazztradition getränkten Grundstimmung. Das Orchester ist Instrument souveränen, raschen Wandels, reiche, schwelgerische Sätze und knallende Tutti lösen sich auf in zarte Kleingruppenarrangements voll raffinierter Instrumentierungen (einem Trio von Flöte, Fagott und Oboe oder einem von der Oboe geführten Posaunensatz): Schroffheit und Sanftheit von Mingus' Charakter und seiner Musik leuchten auf. Das Werk ist auch ein Streifzug durch Mingus' Schaffen — einige seiner bekanntesten Kompositionen integriert er, eine aufregende Combo-Version von Better Git it in Your Soul steht im Mittelpunkt — und ein Streifzug durch die Jazzgeschichte; nicht chronologisch, sondern simultan. New- Orleans-Jazz trifft auf ein Monk- Thema, singende Bigbandsätze auf statische, auch schwerfällige Klangbilder à la Ravel und Debussy. Mingus' in Form gegossene Leidenschaft macht Epitaph mitreißend und verleiht ihm Geschlossenheit. Hinter Mingus' Leidenschaftlichkeit blieb die der renommierten Solisten zurück — unter ihnen die Mingus- Alummni George Adams (Tenorsax) und Jack Walrath (Trompete): Manchmal allzu schüchtern, salopp oder auch nur routiniert überbrückten sie die Freiräume der Komposition, in denen sie individuelle Höhepunkte hätten setzen können.
Der letzte Abend brachte dann nochmals die festivaltypischen Gegensätze im Programm und die ebenso festivaltypische Einheit im Mittelmaß. Ray Anderson aus Chicago kam mit einem Sextett. Er bedient sich ebenso virtuos aus dem Füllhorn musikalischer Formeln wie er Posaune spielt. Das kann in Belanglosigkeiten enden wie der dahinplätschernden Swing-Ballade Cheek to Cheek oder der aufgeplustert betitelten Wishbone Suite („Wishes for the Earth, the People on Earth and the Spirits“), die ein eher schlichtes Vehikel für die Solisten ist: Simon Nabotov mit rhapsodischer Klavieretüde, Mark Feldman mit scharf gestrichener Geige, Mark Helias mit einem rhythmisch pochenden Baßsolo; Percussionist Don Alias holt auf Congas und african thumb piano Afrikas Geister ins Haus. Das kann aber auch in heiteren Themen enden wie Asoko über karibischen Rhythmen oder in musikalischen Späßen wie dem von Anderson croonend, scattend, knödelnd und mit Obertönen gesungenen Comes Love, in dem Anderson und Feldman von Reminiszenzen an Lawrence Brown und Ray Nance in Ellingtons Band den Bogen bis zur Avantgarde spannen.
Betty Carter: Der Moment verronnen
In atemloser Spannung hielt dann Sängerin Betty Carter das Publikum während ihres ersten Songs All to Soon. Seit den vierziger Jahren („Bebop Betty“) singt sie mit dunkler, klar akzentuierender Stimme unbeirrt auf eigenem Kurs immer knapp neben dem Mainstream des Jazz. Sie eignet sich Melodien und Texte ganz an, verwandelt sie, dramatisiert sie eindringlich. Wie sie flehend und doch schon ungläubig beschört „This moment, make it last“, geht unter die Haut. Aber der Moment war nicht von Dauer. Konzentration und Publikum entglitten Betty Carter, ihre Songbehandlung wurde von Lied zu Lied manierierter und pathetischer. Ein harter Kern von Fans feierte sie, doch viele verließen den Saal vorzeitig.
Kein unpassendes Ende für ein Jazzfest, dessen oberflächliche Vielfalt das ungute Gefühl hinterließ, irgendwie sei alles eben doch eins und egal.
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