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WEIL ÄRZTE IRREN: DIE MEISTEN MORDE BLEIBEN UNENTDECKT

Wenn der greise Opa eines Morgens tot im Bett liegt, hält sich der Hausarzt meist nicht lange mit Untersuchungen auf und stellt den Totenschein aus. Ob vielleicht einer der lieben Verwandten Opa mit Hilfe eines Kopfkissens das Licht ausgeblasen hat, um schneller an seinen Sparstrumpf zu kommen, danach fragt kein Mensch. Die meisten Morde in Deutschland bleiben vermutlich unentdeckt, weil Ärzte die wahre Todesursache nicht erkennen. Diese Ansicht vertraten führende Rechtsmediziner bei einer Umfrage der Deutschen Presse Agentur. So kämen nach kriminologischen Schätzungen auf ein erkanntes Tötungsdelikt drei bis sechs nicht erkannte. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden wurden im vergangenen Jahr 780 Tötungsdelikte offiziell festgestellt. Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Frankfurter Universität, Hansjürgen Bratzke, weiß von haarsträubenden Fehlurteilen: So habe ein Arzt in einem Fall den Totenschein auf natürlichen Tod ausgeschrieben — obwohl dem Selbstmörder sogar noch der Strick um den Hals hing. Das fiel aber erst dem Bestatter auf. Ein anderer Fall: Beim Abtransport eines Toten kullerte ein Geschoß aus dem Leichnam. Der Arzt hatte auf einen „natürlichen Tod“ erkannt. Der Rechtsmediziner Professor Hans Dieter Tröger von der Medizinischen Hochschule Hannover berichtete vom Fall eines verstorbenen Drogenabhängigen, bei dem der Arzt als Todesursache „Blutsturz“ attestierte. Tatsächlich war der junge Mann jedoch an Messerstichen in die Brust gestorben. Aufgrund fehlender eingehender Untersuchungen blieben nicht nur „raffinierte perfekte Verbrechen“, sondern auch ganz „primitive Morde“ unentdeckt, hatte der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Gießener Universität, Professor Günter Weiler, kürzlich festgestellt. Unnatürliche Todesursachen wie Selbstmord oder Mord, aber auch Unfalltod würden häufig übersehen. Das Ausmaß der nachweisbaren Fehldiagnosen sei erschreckend, so auch Professor Wagner aus Homburg/ Saar. Bei einer Untersuchung von 13.500 Todesfällen sei die Diagnose in 62 Prozent der Fälle falsch gewesen, darunter sechs Prozent mit verkanntem Fremdverschulden.

Als Ursache nannten die Experten unter anderem mangelnde Erfahrung des Arztes oder Sorgfalt, aber auch „Druck“ von Verwandten oder Polizei auf den Arzt, in vermeintlich eindeutigen Fällen eine natürliche Todesursache zu bescheinigen. Oft werde die Leiche noch nicht einmal entkleidet. Viele Todesursachen könnten zudem erst durch eine Obduktion erkannt werden. In Deutschland werde allerdings nur in acht Prozent der Fälle die genaue Todesursache von einem Gerichtsmediziner festgestellt.

Angesichts der Fehldiagnosen werde bei den Rechtsmedizinern, erzählt der Frankfurter Bratzke, bereits mit Häme der Spruch kolportiert: „Wenn über jedem Grab auf dem Friedhof, in dem ein unerkannt Ermordeter liegt, ein Licht brennen würde, müßte es dort taghell sein.“

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