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Berliner Lehrern hängt die Zunge raus

■ Auf einem Hearing anläßlich der bevorstehenden Pflichtstundenerhöhung verteidigten Lehrerinnen und Lehrer ihre immense Arbeitsbelastung/ Reaktion des Schulsenators konnte nicht überzeugen

Berlin. Die Berliner Schulverwaltung nimmt die extreme Belastung der LehrerInnen nicht zur Kenntnis. Dies erklärte gestern der GEW-Bundesvorsitzende Dieter Wunder auf einem Hearing anläßlich der bevorstehenden Erhöhung der Pflichtstundenzahl für Berliner LehrerInnen.

Wie berichtet, will Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) zum Schuljahr 92/93 die Pflichtstundenzahl um eine Stunde heraufsetzen, um so de facto 800 Stellen einzusparen. Auch im Bereich Schule müsse gespart werden, rechtfertigte sich Klemann gestern vor rund 150 Pädagogen. Außerdem wolle doch niemand eine Frequenzerhöhung in den Schulklassen, appellierte er an das Verantwortungsbewußtsein der Pädagogen.

Doch gerade dieses Verantwortungsbewußtsein werde ohnehin genug strapaziert, konterte der Erziehungswissenschaftler und Ökonom Hans-Georg Schönwälder. Die »Pflicht der persönlichen Zuwendung zum Kind und Jugendlichen kennt keine Grenzen«. Die durchschnittliche Arbeitszeit eines Lehrers liege bei 45,3 Stunden pro Woche und damit schon jetzt weit über den Wochenstunden der übrigen abhängig Beschäftigten. Zudem arbeiteten 80 Prozent der Lehrerschaft auch am Wochenende.

Nicht zu vergessen sei die gesundheitliche Belastung, der sich die gestreßten Pädagogen ausgesetzt fühlen. Um auch darüber keinen Zweifel mehr zu lassen, hatte die GEW anläßlich des Hearings den Arbeitsmediziner Wolf Müller-Limmroth eingeladen. Die Hälfte aller LehrerInnen unter dreißig habe während des Unterrichts einen deutlich erhöhten Blutdruck, auch die Ausschüttung des Streßhormons Adrenalin sei gegenüber anderen Berufen deutlich größer, erfuhr das Auditorium. Und das alles, erfuhr die taz im Anschluß an das Hearing, für ein Entgelt zwischen 4.100 und 6.560 Mark brutto im Monat.

Über die Höhe des Gehalts habe sich die GEW nie beklagt, räumte der Berliner Vorsitzende Erhard Laube ein. Eine Arbeitszeiterhöhung für LehrerInnen sei jedoch »ein Schlag ins Gesicht« und außerdem Tarifbetrug. Im übrigen werde dadurch in den kommenden Jahren keine einzige Mark eingespart, sondern der Überhang an Lehrerstellen statt dessen von rund 1.500 auf 3.500 noch erhöht. Dabei reiche schon der jetzige Überhang aus, um die wachsenden SchülerInnenzahlen aufzufangen. »Wir glauben, daß es sich hier um die politische Vorbereitung von Massenentlassungen in Ost-Berlin handelt.« Im übrigen läge die Gesamtarbeitszeit der Berliner LehrerInnen trotz einer niedrigeren Pflichtstundenzahl schon jetzt über der in anderen Bundesländern. Ursache dafür seien unter anderem höhere Klassenfrequenzen, die ausgeprägte Förderdiagnostik, die überproportional hohe Integration behinderter und der hohe Anteil ausländischer Kinder.

»Die Berliner Lehrer sind wesentlich günstiger dran«, erklärte dagegen Landesschulrat Hans-Jürgen Pokall. Belege konnte er dafür jedoch nicht nennen, und so vermochte er die geballten Argumente der GEW-Vertreter nicht zu entkräften. Auch sein Dienstherr Jürgen Klemann brillierte nicht gerade durch Überzeugungskraft und verlegte sich auf Totschlagargumente. Er schätze das Verantwortungsbewußtsein der Lehrer anders ein, als sie auf dieser Veranstaltung gezeigt hätten, und im übrigen »sind es die Schüler, die darunter leiden, wenn sich jemand weigert«. Den Vorwurf, er hätte sich vor Ankündigung der geplanten Pflichtstundenerhöhung mit der GEW zusammensetzen können, da es auch andere Einsparmöglichkeiten im Schulbereich gegeben hätte, konnte er dadurch nicht entkräften. Entsprechend kündigte die GEW im Anschluß an das Hearing Streiks im kommenden Frühjahr an. maz

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