Scheinproblem aufgebaut-betr.: "Flüchtlinge sollen zu den Peinigern zurück", taz vom 5.11.91

betr.: „Flüchtlinge sollen zu den Peinigern zurück“,

taz vom 5.11.91

Mir gefällt, daß die taz kein Blatt einer dogmatischen Linken ist, also auch weniger einheitlich und ausgrenzend, als in der Szene üblich. Das schließt natürlich ein, daß man nicht mit jeder Meinung einverstanden sein kann (das ging vielleicht bei Parteisekretären, die dem ND ihre jeweilige Meinung entnehmen konnten). Leider ist die Sehnsucht danach bei sogenannten Linken weit verbreitet, wie man fast täglich auf der Leserbriefseite sehen kann.

Wenn ich dennoch protestiere, hat es seinen besonderen Grund. Eure Schlagzeile von heute ist zwar nicht das erste von der Art, aber das Letzte!

Nach hiesigen Zeitungen hat sich etwa folgendes hier abgespielt am Sonntag: Randale zwischen Berliner und Greifswalder Hooligans beim Fußball, dann Attacken auf das nahegelegene Asylsantenheim, wo die „Befreier“, die sich zum Teil schon seit dem Vortag dort aufhielten, binnen weniger Stunden den Abtransport, zurück nach Neumünster, organisierten.

Man kann schon den Eindruck gewinnen, daß hier jemand, der es gewöhnt ist, daß er über die einzig richtige Meinung verfügt, Regie geführt hat. Eure Schlagzeile zwei Tage später ist dann die Faust aufs Auge.

Leider hilft all das weder den armen Leuten, die zur Zeit mal wieder in Neumünster sind, anscheinend in größerer Sicherheit (was ihnen zu wünschen ist; aber ich habe gestern im Fernsehen die kleine Umfrage bei Bürgern Neumünsters gesehen; einer murmelte so etwas wie, man müsse die Gaskammern wieder anheizen. Solche gibt's hier auch!). Es hilft auch nicht dabei, Vorurteile abzubauen und Gewalttaten zu verhindern. Es baut anstelle des wirklichen ein Scheinproblem auf. Nicht die organisierten jungen und alten Nazis und die nicht wenigen guten Bürger, die nicht mit den Methoden, wohl aber mit einigen ihrer Ziele sympathisieren, sondern die kulturlosen Ossis sind dann das Problem.

Ich habe vor einigen Wochen in Greifswald Flugblätter der SPD gegen Ausländerhaß verteilt. Dabei sagte mir einer, der sich als „Wessi“ bezeichnete und mich fragte, ob ich „Ossi“ sei, erstens, sie (die Wessis) mögen so etwas nicht (nämlich was wir da taten), weil sie schließlich das Geld geben; zweitens, wenn die Ausländer weg seien, dann kämen „solche Penner“ wie ich an die Reihe (ich nehme an, er meinte meinen Vollbart). Wie auch immer: meine erste persönliche Begegnung mit dem „häßlichen Wessi“, so wie ich Wochen zuvor im Fernsehen den häßlichen Ossi aus Hoyerswerda sehen konnte.

Eure Überschrift aber empfinde ich als Ohrfeige für mich, nicht für die. Michael Gratz