: REISEN BILDET?
■ Ein türkischer Reiseleiter schildert den Bildungsurlaub nmit Deutschen
Ein türkischer Reiseleiter schildert
den Bildungsurlaub mit Deutschen
VONMUSTAFAMETE
Seit Beginn der achtziger Jahre ist in Deutschland ein neuer Typ von Reisendem entstanden — der Bildungsurlauber. Bildungsreisen werden vor allem von politischen Organisationen, Berufsvereinigungen, Vereinen oder Auslandsgesellschaften organisiert und durchgeführt. So eine Reise soll ihre Teilnehmer über die soziopolitische, gesellschaftliche und politische Situation des bereisten Landes informieren. Bei Berufsvereinigungen kann der Schwerpunkt zum Beispiel bei der Situation der jeweiligen Berufsrichtung in dem zu bereisenden Lande liegen.
Eine weitere wichtige Klientel für Bildungsreisen sind auch Gruppen, bestehend aus Mitgliedern verschiedener beruflicher und politischer Richtungen, die in Deutschland sehr viel mit hier lebenden und arbeitenden Ausländern zu tun haben. Deren Anliegen ist es, während einer solchen Reise ein Maximum an Informationsmaterial über die allgemeine Situation des Landes zu sammeln, um dieses angeeignete Wissen dann nach der Rückkehr bei ihrer Arbeit mit den Ausländern zu verwenden.
Um diese Reisen möglichst attraktiv zu gestalten, werden natürlich bei der Organisation dieser Reisen auch die touristischen Attraktionen nicht zu kurz gehalten. Der Schwerpunkt aber liegt beim sogenannten politischen und gesellschaftlichen Programm. Vor Ort werden Veranstaltungen wie Vorträge, Gespräche, Seminare und Diskussionsrunden mit Politikern, Gewerkschaftern, Journalisten, Arbeitern, Sozialarbeitern oder Lehrern organisiert, es werden Besuche bei Parteizentralen, Menschenrechtsvereinigungen, Bürgerinitiativen, Fabriken, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern usw. durchgeführt. Natürlich wird zur Entspannung auch ein zumeist gemäßigtes touristisches Programm angeboten, manchmal über die ganze Reise verstreut oder als abschließende Woche, um sich von den Strapazen des politischen und kulturellen Pflichtprogrammes zu erholen.
Bei meiner etwa dreijährigen Tätigkeit als Reiseleiter und Dolmetscher für Bildungsreisen in der Türkei habe ich die Gelegenheit gehabt, Bildungsreisenteilnehmer kennenzulernen. In vieler Hinsicht ist mir persönlich dieser Typus von Tourist sehr viel lieber als der andauernd Bier trinkende und unter der Sonne brutzelnde „Deutsche“, der außer einer wohlgebräunten Haut und einigen Andenken und Fotos nichts mit nach Hause bringt.
Bildungsreisen sind nicht nur wegen ihrer Programminhalte interessant. Man kann nämlich für die Dauer einer solchen Reise Bildungsurlaub beantragen und dies auch angerechnet bekommen. Oft ist es sogar möglich, nach Bestätigung des Programms einen Teil oder die gesamten Reisekosten von der Steuer abzusetzen.
Ich bin der Meinung, daß bei vielen Teilnehmern nach der Rückkehr von einer solchen Reise außer einigen Bildern und Eindrücken nicht mehr viel vorhanden ist. Oft bleibt die Nachbereitung beim obligatorischen Dia-Abend bei Lahmacun und Ayran in der Betrachtung von der Hagia Sophia, Kappadokien und Ephesos stecken. Obwohl man bei den Treffen in der Türkei die berühmte deutsche Betroffenheit zur Schau stellt und gute Vorsätze faßt, bleibt, wieder zu Hause, kaum was vom vielbeschworenen Engagement übrig. Im Endeffekt hängt es vom einzelnen ab, was er mit dem „Gelernten“ anfängt. Trotzdem kann diese Art Reise dazu beitragen, auf Mißstände in den jeweiligen Ländern aufmerksam zu machen, mehr Verständnis für die Lage der hier in Deutschland lebenden Ausländer aufzubringen, um für sie dieses Land etwas lebenswerter zu machen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung möchte ich hier anführen: 1989 war ich mit einer deutschen Bibliothekarsgruppe in der Türkei unterwegs. Während unseres Istanbul-Aufenthaltes lief gerade der Großprozeß gegen 32 türkische Verleger, die damals den in der Türkei verbotenen Roman Im Wendekreis des Krebses von Henry Miller veröffentlicht hatten. Das Buch wurde kurz nach der Veröffentlichung eingezogen und vernichtet — den 32 Verlegern wurde der Prozeß gemacht. Bei einem Treffen mit türkischen SchriftstellerInnen wurden wir gebeten, doch am nächsten Verhandlungstag zu erscheinen. Vielleicht könnten wir als Gruppe aus Deutschland den Richtern und Staatsanwälten durch unsere Teilnahme als Beobachter Druck machen. Ganz spontan haben alle zugesagt, und wir sind am nächsten Tag zur Verhandlung gekommen. Das Ergebnis: Die 32 Verleger wurden freigesprochen, und Im Wendekreis des Krebses darf in der Türkei in Türkisch gekauft und gelesen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen