: Krieg ohne Ende in Afghanistan
Vor allem die Kinder geraten zwischen die Fronten/ Es fehlt an medizinischem Gerät/ Als Spielzeug getarnte Bomben führen zu schlimmen Verstümmelungen/ In Afghanistan wird die Saat vermahlen/ Afghanistan-Reportage ■ Von Dr. Mostafa Danesch
Satt und rosig in süßer Ruh auf Vaters warmem, breitem Rücken, behütet auf Spielwiesen, quicklebendig und flink mit dem Bobtail unter blühenden Obstbäumen umhertollend, ausgestattet von Süß- und Spielwarenindustrie, beraten von Banken und Sorgentelefon — unsere Kinder? Dieses Bild der Werbung, das der „Club Med“ auf den flotten Spruch bringt: „Wir kennen nur glückliche Kinder“ (was wir dem „Club“ im übrigen ohne weiteres glauben), trifft nicht einmal auf die Kinder in den reichen Industrieländern zu.
Beispiel USA: Jedes sechste Kind des so freien und reichen „Amerika“ lebt in Armut, in der großen Stadt New York beinahe jedes zweite. Jedem dritten Kind lateinamerikanischer und jedem zweiten Kind afrikanischer Herkunft ist auch dort in den USA ein Leben unter dem Existenzminimum so sicher wie der Mehrzahl der Kinder aus den Familien, die nicht „Freiheit und Wohlstand“ gewählt haben und zu Hause in der dritten Welt geblieben sind.
Übersteigert wird das allgemeine Elend der dritten Welt aber noch einmal da, wo zu Hunger, Krankheit und Unwissenheit noch der Krieg wütet und den Kindern weitere Wunden schlägt an Körper und Seele, wie zum Beispiel in Afghanistan.
In den frühen Morgenstunden heulen die Düsenaggregate der Kampfbomber über das Flugfeld des Luftwaffenstützpunkts Baghram, 40 Kilometer nördlich der afghanischen Hauptstadt.
Die Regierung in Kabul läßt angreifen, um ihre Stärke zu demonstrieren: „Im Zeichen der ,Nationalen Aussöhnung‘ hatten wir seit dem Abzug der sowjetischen Truppen auf Offensiven verzichtet“, so der Vier- Sterne-General Asimi, „aber nach den jüngsten gemeinsamen Angriffen von Opposition und Pakistanis wollen wir einer Wiederholung vorbeugen.“
Beladen mit Bomben und Raketen startet die erste Welle der MIG21 gegen den Feind. Der sitzt wenig mehr als hundert Kilometer entfernt im Waghjan-Tal, einer Gegend in der Provinz Logar, 75 Kilometer südlich von Kabul. Dort unterhalten die Mudschaheddin des Anführers Gulbuddin Hekmatjar einen ihrer größten Stützpunkte und eines der bestausgestatteten Waffenlager der bewaffneten Opposition innerhalb Afghanistans.
Zwei Tage lang regnet es ununterbrochen Bomben, Raketen und Artilleriegeschosse. Die Regierungstruppen pflügen den Boden im Waghjan- Tal um und zermürben die Widerstandskraft der Kämpfer Hekmatjars. Sie halten denn auch nicht stand. Die etwa fünftausend Mann starke Gruppe flieht in die Berge, läßt fast 500 Tote und noch mehr Verwundete zurück, unter ihnen junge Männer, die fast noch als Kinder gelten können, und tatsächlich Kinder. Das Schicksal des zehnjährigen Achmad kann als typisch gelten für das Schicksal vieler Kinder Afghanistans in den letzten Jahren.
Vor drei Jahren hat der damals siebenjährige Junge seine Eltern und Geschwister verloren. Sie wurden Opfer eines Angriffs sowjetischer Truppen auf sein Heimatdorf am Salangweg, die den Ort dem Erdboden gleichmachten, um den moslemischen Rebellen einen militärischen Stützpunkt zu nehmen. Achmad ging mit den Rebellen in die Berge.
Bei dem Gefecht um das Waghjan-Tal geriet das Kind wieder zwischen die Fronten. Als der Kampf zu Ende war und die Soldaten sich zurückgezogen hatten, blieb Achmad mit einem Bauchschuß schwerverletzt auf der Straße liegen, 70 Kilometer vor Kabul. Ein Lastwagenfahrer aus einem Nachschubkonvoi las den Jungen aus dem Straßendreck und brachte ihn in die Stadt, zum Indira-Gandhi-Krankenhaus.
Als die indische Regierung den Kindern Afghanistans 1970 ein Krankenhaus schenkte, das nach Indira Gandhi benannt ist, dachte niemand daran, daß sich dieses 100-Betten-Haus ein paar Jahre später in ein Kinderlazarett verwandelt haben würde, in dem ständig mehr als 400 kriegsverletzte Kinder untergebracht sind. Überall stehen Betten dicht an dicht in den Zimmern, auf den Fluren, in den Vorräumen, sogar im Hof, manchmal zwei Kinder in einem Bett. Wenn es heißt, sie erhielten hier nicht viel mehr als chirurgische Erstversorgung, dann bedeutet das, daß die Mädchen und Jungen nach einer Notamputation im Schnitt nach sechs oder sieben Tagen das Krankenhaus wieder verlassen. Dann müssen sie ihr Bett für die nächsten Opfer freimachen, die nächsten Notfälle, für ein von einer Rakete verstümmeltes achtjähriges Mädchen etwa, dessen Mutter hilflos und verzweifelt am Bett der Tochter jammert und wehklagt.
Denn immer wieder gehen auch mitten in Kabul Raketen nieder. Die Hauptstadt, in der Tat der wichtigste Stützpunkt der Regierung, ist eine belagerte Festung. Die Regierung kann die Stadt auch mit einem gewaltigen Verteidigungsring von 600 Stellungen auf den Bergspitzen rundum nicht vor den Raketenangriffen der Mudschaheddin schützen.
Im August eröffneten die Mudschaheddin für mehrere Tage ein Feuerwerk von über einhundert Raketen. Die Bilanz: 40 Tote blieben in den Straßen liegen, unzählige Verwundete, darunter viele Kinder. Alleine seit Anfang 1989 sind mehr als 4.500 Sprengköpfe in den Kabuler Straßen und Wohnvierteln detoniert. Unter den mehr als 5.000 Toten, die diese Angriffe seit dem Abzug der Sowjets forderten, waren 3.500 Kinder.
Den Toten kann das medizinische Personal nicht mehr helfen, aber auch den Lebenden nur wenig mehr. Es fehlt an allem, an Raum, Gerät und Medikamenten. Die Ärzte stehen mit leeren Händen da. In dem endlosen Strom der immer neuen Kriegsopfer kommen viele der zu früh entlassenen Kinder mit Komplikation zurück ins Indira-Gandhi- Krankenhaus. Nicht wenige, die ihre Verwundung überlebt haben, sterben doch an den nachträglichen Komplikationen, der unzulänglichen Wundversorgung. „Was sollen wir machen?“ klagt der Chefarzt Dr. Abdul Salam Jalali. „Die wirtschaftliche Situation ist schlecht. Die Regierung gibt das meiste Geld für Rüstung und Krieg aus. Da bleibt für die Gesundheit wenig. Das Haus ist überlastet. Die Kapazität ist erschöpft. Aber jeden Tag kommen mehr Kinder. Es fehlen Medikamente, die Instrumente und Geräte sind überaltert. Viele Kollegen haben das Land verlassen und fehlen in der Versorgung. Das Geld, das uns die Regierung gibt, reicht nicht einmal aus, um dem Personal die Gehälter zu zahlen.“ Jetzt muß Achmad versorgt werden. Die elfjährige Roya räumt für ihn ihr Bett. Ihr Vater wird sie abholen. Aber wohin? Das Haus, in dem sie aufwuchs, liegt in Trümmern. Royas Mutter und ihre vier Geschwister sind nicht mehr aufgewacht, als die Rakete US-amerikanischer Bauart, von moslemischen Glaubenskriegern abgefeuert, eines Morgens in aller Frühe das Dach durchschlug. Sie starben im Schlaf. Ihr Vater hat überlebt. Sie selbst hat überlebt, auf einem Auge der Sehkraft beraubt, die Gesichtszüge verwüstet.
Auch Achmad hat vorerst überlebt. Für den gleichaltrigen Djawid aber gibt es keine Hoffnung mehr. Er leidet unsägliche Qualen. Er wird seinen Brandwunden erliegen. An seinem Bett in der Enge des Krankenzimmers sitzt seine Mutter und versucht, ihm Kühlung zuzufächeln. Ein Bild jämmerlicher Hilflosigkeit angesichts der Verbrennungen zweiten und dritten Grades. Der Junge ist eines der Opfer einer Verteidigungstechnik, die andere Menschenleben schützt. Die Piloten der noch in Kabul startenden und landenden Flugzeuge aus der Sowjetunion werfen als Abwehr gegen die gefürchteten Stinger-Raketen 400 Grad Celsius heiße Magnesiumkugeln ab, die die Suchsysteme der Boden-Luft-Rakete irreführen sollen. Die leuchtenden Kugeln fallen mitten in die Stadt, auf Straßen und Plätze, und locken mit ihrem Glanz die neugierigen Kinder an.
Sechs Kinder waren es, die den Stern, der da vom Himmel gefallen war, aus der Nähe sehen wollten, drei davon leben noch, mit schweren Verbrennungen zwar, aber sie leben noch, drei sind schon tot, ihren Verletzungen erlegen, wie Djawid den seinen erliegen wird. Diese drei waren die Kinder eines Vaters, des alten Porzellanhändlers Haji Sherif, der nur noch anklagend wiederholen kann: „Und so etwas geschieht täglich, so etwas geschieht täglich.“
Nirgendwo sind die Kinder sicher: In den Dörfern nicht und nicht auf den Landstraßen, in den Häusern der Stadt nicht und nicht in den Schulen, auf den Straßen nicht und nicht auf den Spielplätzen, auf dem Basar nicht und nicht im Kindergarten — allerallhin verfolgt sie der Tod.
Doch die grausame Phantasie der kriegführenden Parteien gibt sich noch nicht damit zufrieden, daß Kinder Opfer ungezielter Angriffe oder versteckter Minen werden wie Erwachsene auch. Sie ersinnt auf Kinder gezielte Waffen und setzt sie ein — als Spielzeug oder Werkzeug getarnte Bomben. Der zehnjährige Hamid fand vor dem Haus seiner Eltern einen Füller. Der Füller war eine Bombe. Sie explodierte und riß dem Kind vier Finger von der Hand.
500.000 Kindern, einer halben Million, so wird geschätzt, wurde in dem afghanischen Bürgerkrieg ihr Leben genommen. Mehr als 150.000 Kinder sind verkrüppelt.
Einzele beginnen zu begreifen, daß nicht nur diese Kinder in Afghanistan keine Zukunft haben, wenn sich nichts Grundlegendes ändert, sondern daß auch Afghanistan keine Zukunft haben wird ohne seine Kinder. Was Lalch, die 13jährige Schülerin der deutschen Amani-Schule in Kabul, so ausdrückt: „Die Russen schicken immer noch Bomben und Raketen. Die Amerikaner schicken immer mehr Bomben und Raketen. Wir Afghanen sterben. Wenn sich die beiden Großen nicht bald einigen, werden sie nur noch über unseren Gräbern Krieg führen“, könnte auch im Programm der „Nationalen Organisation der Kriegsversehrten und Behinderten“ stehen.
Diese Organisation wurde im Dezember 1990 von dem 38jährigen Architekten Hamidullah Obeidi und Jamile Barjalai, Dozentin für Völkerrecht an der Universität Kabul, gegründet. Die beiden wissen, wovon sie reden: Obeidi hat 1982 bei einem Raketenangriff auf Kabul beide Beine verloren, und Jamile Barjalai teilt dasselbe Schicksal; sie wurde 1990 Opfer einer Raketenexplosion auf dem Universitätsgelände und verlor ebenfalls beide Beine.
Diese Organisation mit Sitz im Nobelviertel Wasir Akbar Khan meint es ernst, und sie wird ernst genommen. Sie hat Abkommen geschlossen mit beiden Bürgerkriegsparteien. Ihre Beauftragten bewegen sich frei im Lande. Von der UNO mit 450.000 Dollar für 1991 unterstützt, versucht sie zunächst einen Überblick zu gewinnen über die Verwüstungen des inzwischen dreizehn Jahre andauernden Krieges. Als nächsten Schritt plant sie den Aufbau von vereinsartigen Strukturen für die Kriegsopfer. Zum Ziel gesetzt hat sie sich den Aufbau einer Infrastruktur, die den Verkrüppelten eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und gesellschaftlicher Verantwortung erlaubt, angefangen bei speziellen Schulen für allgemeine und Berufsausbildung für verkrüppelte Kinder. „Der Krieg ist zum Schicksal der Kinder Afghanistans geworden“, sagt Jamile Barjalai, „und die Weltöffentlichkeit scheint sich daran gewöhnt zu haben, daß in Afghanistan täglich verwundet und getötet wird.“
Das Engangement der „Nationalen Organisation der Kriegsversehrten und Behinderten“ ist ein Silberstreif am Horizont der Entwicklungen im afghanischen Bürgerkrieg.
Dort, wo die Kriegsparteien am tiefsten gesunken waren, bei dem Umgang mit den Kindern, entsteht jetzt ein Widerstand aus Einsicht und Vernunft. Und die wird Afghanistan bitter nötig haben.
Denn nicht alleine ist der hohe Anteil der Versehrten eine schwere Hypothek für die Nachkriegsentwicklung, das Land hat auch auf Jahre hin für eine Zeit nach dem Krieg mit weiteren Kriegsopfern zu rechnen.
Der Boden ist von Norden bis Süden und von Osten bis Westen ein einziges, riesiges Minenfeld. Sowjets, Regierungstruppen und Mudschaheddins haben Millionen von personal mines verbuddelt, und keiner weiß mehr, wo überall die eigenen liegen, geschweige die der anderen. Immer wieder werden Kinder dieselbe Geschichte erzählen, die heute der elfjährige Abdullkarim erzählt: „Erst gab es einen dumpfen Knall. Dann wurde ich mit einer Dreckswolke durch die Luft geschleudert. Hier im Krankenhaus wurde ich wach.“ Er will immer noch nicht begreifen, daß dort, wo er seine Beine wußte, nichts mehr ist, nur das Laken des Krankenbettes.
Daß in dem breiten ehemaligen Grenzstreifen zwischen den Räusperteilen Deutschlands ebenfalls noch zigtausend Minen auf wandernde Kinderfüße warten, sollte es uns hierzulande erleichtern, die Situation Afghanistans zu begreifen.
Aber solange noch Kindersoldaten des Nachts Wache stehen in Kabuler Straßen und in Camps der Mudschaheddin und sich fürchten müssen vor dem nächsten Angriff der Feinde, ist ein anderes Problem vorrangig: die Beendigung des Krieges.
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