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: Kein zweiter Mezzogiorno

■ Das moralische Defizit wiegt schwerer als die D-Mark

Berlin (taz) — Eine Rezession ist, wenn der Nachbar nebenan keine Arbeit mehr hat. Aber eine Depression herrscht, wenn du selbst deinen Job verlierst.

Vergleichbare Argumente beherrschen die Debatte über den Zustand der deutschen Wirtschaft. Hat sie sich übernommen? Ist das Land dabei, sich für die Zukunft einen Schuldenberg aufzuhäufen? Oder wird nicht vielmehr ein großer Kapitalüberschuß in die ehemalige DDR investiert, als Grundlage für ein zweites Wirtschaftswunder?

Aus der Sicht des Fremden scheint es unausweichlich, daß Ostdeutschland sich erholen wird, und wahrscheinlich schneller, als die meisten befürchten.

Wir sprechen hier über eine Region mit der doppelten Einwohnerzahl Londons, die jedes Jahr Regierungssubventionen von rund 150 Milliarden Mark erhält, dazu private Investitionen in zehnfacher Milliardenhöhe. Früher oder später wird sich dieses Geld auszahlen, selbst wenn es uneffektiv eingesetzt wird. Wie lange das dauert, und wieviel Leiden es bis dahin verursachen wird, das sind die Schlüsselfragen. Aber Ostdeutschland wird kein Mezzogiorno werden.

Für all jene, die mit der Idee eines Deutschlands als dem großen ökonomischen Riesen aufgewachsen sind, hat die quälende Debatte über den Aufschwung Ost etwas Bizarres, Akademisches. Wie typisch deutsch, sagen wir. Da haben sie all dieses Geld, aber seht nur, wie sie sich selbst immer mehr gegenseitig blockieren.

Von viel größerem Interesse ist doch die Frage der Solidarität, seltsamerweise ein Tabu. Wie sehr sind die Westdeutschen bereit, ihren Lebensstandard einzuschränken, um den Osten aufzubauen? Bereit, Abschied zu nehmen von ihrem zweiten Urlaub in der Sonne oder dem neue Auto, und das auch nur für ein paar Jahre? Und wie groß ist die Bereitschaft der Ostdeutschen, ihre Forderungen nach gleichem Lohn wie im Westen ein wenig zurückzustellen? Die Antwort auf all diese Fragen lautet: nicht sehr.

Einer der Gründe ist, daß es im Jahr 1991 keine Stunde Null für Deutschland gibt, wie es sie im Mai 1945 gegeben hat: das Gefühl, völlig auf sich gestellt zu sein, die totale Zerstörung.

Die Grundhaltung der Nation in den späten 40er und 50er Jahren war: Alle sitzen im selben Boot. Es gab keinen Grund für Sozialneid, keine Ursache, geizig seinen Reichtum vor anderen zu schützen. Der einzige Weg — für alle — war der nach oben. Und deshalb müssen heute, wo emotionale Zugeständnisse an die Einheit fehlen, dies bürokratische Strukturen übernehmen.

Das Ziel dabei sollte sein, daß die gigantischen Summen Geldes, die nach Ostdeutschland gepumpt werden, nach unten fließen können: Alle müssen das Gefühl haben, daß sie von der Einheit profitieren, daß ihr Leben besser wird. Aber, und das beweisen die vielen Skandale der vergangenen 13 Monate, das Offiziöse hat schrecklich versagt.

1949 konnte Westdeutschland mit einer weißen Weste beginnen: Seine Naziführung war beseitigt. Es hatte eine neue Währung. Seine Fabriken und Maschinen waren neu, weil alles während des Krieges zerstört worden war.

1991 ist das Geld, sind die Mittel für die Erholung der Wirtschaft da. Aber da gibt es den immerwährenden Ruch von Betrug und Mißtrauen: von den kommunistischen Seilschaften, die sich in den Sterbemonaten der Deutschen Demokratischen Republik Unternehmen unter den Nagel gerissen haben, über die Schwarzhändler, die vor der Währungsunion Millionen beiseite schafften, bis zu den westdeutschen Geldhaien, die ostdeutsche Firmen für eine Mark aufkaufen, nur um sie auszunehmen, die Arbeitskräfte zu feuern und das Land zu verkaufen.

Das Ergebnis ist: Es bleibt ein Gefühl, daß sich für den Mieter eines Hauses nichts wirklich ändert, wenn der Vermieter wechselt. Und das ist ein moralisches Defizit, das sehr viel schwerer wiegt als die Deutsche Mark. Richard Ingham/Großbritannien und Yacine le Forestier/ Frankreich