piwik no script img

Nur dasitzen soll er!

Eugen Drewermann in Kiel  ■ Von Tilman Lautzas

Die Einladung nach Kiel erging an Dr.Eugen Drewermann, lange bevor die katholische Kirche ihm die Lehrerlaubnis entzog. Jetzt geht er mit schnellen Schritten, aber ohne jede Ungeduld, durch die seit einer Stunde dichtbesetzten Stuhlreihen in der überfüllten Nikolai-Kirche: kein Applaus. Zu bescheiden wirkt der zierliche Mann in blauer Hose, blau-grauem Pullover, mit geöffnetem Hemdkragen. Jemand entschuldigt, daß Herr Dr.Drewermann von der Kanzel sprechen muß — „es kommt dann besser bei Ihnen an“. Aber es macht ihm nichts aus, über der Menge zu schweben. Er beginnt sofort, konzentriert zu sprechen, den Oberkörper unbewegt, die Augen kreisen wach und warm über den Reihen, die feminine rechte Hand rutscht weit über die Brüstung hinaus ins Rampenlicht, von wo aus die hellen beweglichen Finger leicht die Gedanken der ZuschauerInnen lenken können: vom Reformationsfest am Vortag im evangelischen Kiel zu Allerheiligen in seiner katholischen Heimat Paderborn, von ins Lächerliche verdichteten Szenen aus dem Lehrbeanstandungsverfahren zum Paragraphen 218, dessen bestrafende Moral eine Parellele in der Moraltheologie seiner Kirche findet. Das Thema Drewermanns, Die Dämonischen und ihre Heilung, gibt Raum genug, mit sanfter Stimme und spielerischen Bewegungen der Finger seiner rechten Hand die Flötentöne hervorzubringen, die die Ratten aus ihren Löchern locken werden, die in jeder Moral stecken. Für sie wird es keine Heilung geben. Es scheint, als sollten die Ratten in Paderborn, Osnabrück und Köln der verbotenen und doch gespielten Flöte folgen und sich selbst ersäufen wie seinerzeit ihre Artgenossen in Hameln.

Und wie die zweitausend Schweine, die sich der biblischen Legende nach in den See Genezareth stürzten, nachdem Jesus die Dämonnen mit Namen Legion in sie hatte fahren lassen. Dr.Drewermann hat sich seine Goldrandbrille aufgesetzt und die Geschichte aus dem fünften Kapitel des Markusevangeliums fließend aus dem griechischen Neuen Testament übersetzt. Nun kommt auch die Linke ins Spiel: sie hält das zugeschlagene Büchlein fest, indem sie ebenfalls über die Brüstung gleitet und im vom Scheinwerferkegel nicht erfaßten Dunkel hin- und hergleitet auf der Suche nach allem, was das menschliche Leben besessen machen kann, ja, nach der besessenen Existenz schlechthin. Die sanfte Flöte verwandelt sich zum gequälten Saxophon, das in freier Improvisation eigene kindliche Kriegserinnerungen verschmelzen läßt mit dem auswendig zitierten Schluß von Borcherts Draußen vor der Tür; dann entstehen vor den Augen der ZuschauerInnen düstere Bilder aus dem spanischen Bürgerkrieg, zusammengefaßt in einer eindringlichen Beschreibung von Picassos Guernica, in dem zwar nicht die historisch exakte Abbildung der brennenden Stadt, aber dafür die eigentliche Wahrheit über den Krieg und alle Kriege zum Ausdruck komme.

Genauso sei die Bibel auszulegen: nicht in ihrem historischen Wahrheitsgehalt („Um zweitausend Schweine zusammenzuhalten, hätte man mindestens eine Kompanie römischer Legionäre gebraucht“), sondern in ihrem bildlich-symbolischen. Darum werden bei Drewermann die Schrecken des Krieges nun selbst zu Bildern für die Schrecken der isolierten menschlichen Seelen, die „in den Hochhäusern sitzen“ und sich fragen, „ob ihr Leben für irgendeinen Menschen irgendeinen Wert“ besitzt. Diese Besessenheit wiederum findet ihren Ausdruck in Dostojewskis Beschreibung einer düsteren Studentenbude. Beispiele aus der eigenen psychotherapeutischen Praxis folgen. Es entsteht eine Atmosphäre der Intimität, wenn Drewermann von dem Traum der Studentin mit massiven Arbeitsstörungen erzählt, den sie ihm (habe ich richtig gehört?) gestern erst berichtet habe. Was die Studentin trotz vorhergehender längerer Analyse „erst im Laufe von Jahren ganz verstehen wird“, wird schon heute abend zum Bild der Erlösung für alle, die wie sie dämonsiert sind von ihrerseits angstbesetzten moralstrotzenden Müttern. Für diese Dämonischen gibt es Heilung, die bedeutet, Antwort zu finden auf die Frage: „Wer bist du eigentlich?“ Jesus fragte den Besessenen: „Wie heißt du?“ Und er antwortete: „Legion heiße ich; denn wir sind viele.“

Viele bleiben auch noch nach dem eineinhalbstündigen konzentrierten Vortrag, mit Konzept aber ohne Manuskript. Zu Wort melden sich bei der folgenden „Fragestunde“ nicht die TheologInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen, ApothekerInnen, die liberale haute volée der Landeshauptstadt. Als dritter Fragesteller klettert ein junger, gebeugter Mann schwerfällig in den Lichtkegel am Pult. Drewermann, der eben noch die Rolle seines eigenen Priesterideals auf der Kanzel gespielt hat, steht jetzt im Schatten (in spürbarer Nähe) zum Redner, sein warmer Blick ruht konzentriert auf ihm, als der mit gebrochener Stimme fragt: „Aber woher nehme ich die Kraft, meinen Mitmenschen und mir selbst wirklich zu begegnen?“ Der Psychoanalytiker rät seinem Klienten nicht, stattdessen bringt er mehrere rabbinische Lehr- Erzählungen, aus denen hervorgeht, daß ein Ratschlag nur Schaden anrichtet. Der Blick in den Spiegel bleibt ein Wagnis, der Erfolg ist unsicher. Die kindlichen Seelen, jetzt befreit von ängstlicher Besessenheit, geben sich zufrieden mit der Antwort und applaudieren nun doch. Sie werden dem Flötenspieler aus Paderborn folgen wie seinerzeit die Kinder in Hameln dem Rattenfänger. Sie werden zurückkehren in den Schoß jesuanischer Mütterlichkeit, die die Kirche allemal verweigert hat, und den Ort entdecken, an dem die ängstliche Kreatur von neuem geboren wird, während die strengen Kirchenväter neidvoll zusehen müssen.

Am nächsten Tag verabschiedet sich Drewermann, den einige gerne dabehalten hätten („Er braucht gar nichts zu sagen, nur dasitzen soll er!“), mit den Worten: „Meinen gestrigen Vortrag habe ich mit ,Meine sehr verehrten Damen und Herren‘ begonnen; heute kann ich mich mit ,Liebe Schwestern und Brüder‘ verabschieden.“ In den Augen stehen ihm die Tränen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen