: Stadtgrenze als Zeitschleuse
■ »Einsiedler« — Ein Ausstellungsprojekt in Berlin und in dem Dörfchen Deetz
Wer auf einer Insel sitzt, hat als den konkreten Gegenstand seiner Wahrnehmung die Immaterialität der Weite. Anders war es in der als Insel metaphorisierten Teilstadt West-Berlin: je weniger die Mauer im Alltagsleben bewußt war, desto mehr funktionierte sie wie eine unsichtbare Spiegelwand, an der die Blicke sich auf sich selbst zurückbogen. Der Westen war ein implosives Lichtei ohne Ventil, das durch die als Korridore konzipierten Transitwege verkabelt war mit der Bundesrepublik Deutschland. Der Rest war Grauzone, ein Wahrnehmungsloch.
Mit der Grenzöffnung rückten Dinge wie »das Land«, »Landwirtschaft«, »Dorf«, »Obstanbau«, »Landwein« — kurz alles, was unter dem Begriff des »Umlandes« zusammengefaßt ist — in eine greifbare Nähe diesseits der Urlaubs-Simulation. Durch ihre Fremdartigkeit transportierten diese Wörter einen ideellen Wert, die Möglichkeit neuer Erfahrung. Die Idee des ergänzten, kompensierten urbanen Lebens.
Schnell ist dieses Ideelle von der Flut der Einheits-Ernüchterungs- Diskurse einerseits, von den Wanderführern durch die Mark Brandenburg andererseits, zugekleistert worden. Sie prägen Vorurteile, setzen Ziele und definieren Wahrnehmungsschranken.
Indem die fünf Künstler, die seit dem 9. November in der »Galerie Inter Art« ausstellen, das Erlebnis der deutsch-deutschen Vereinigung auf gewisse Grundelemente reduzieren, schaffen sie einen offenen Raum — Kunst erhebt hier für einmal nicht den Totalanspruch auf die Wahrnehmung, die kalkulierte Sparsamkeit der Mittel erlaubt vielmehr, den Assoziationen ihren unkontrollierten Lauf zu lassen. Wie ein Tourist, dem angesichts der »Spinne«, dem Bahnnetz von BVG und BVB, die Stadt zu einer ideellen Größe, einem Traumgebilde geraten mag, steht der Betrachter vor den Objekten und Installationen.
Diese handeln vom potentiellen Verhältnis zwischen Stadt und Land — der Berliner ist Tourist in der Mark Brandenburg. Karina Spechter hat aus mehrfachen Papierschichtungen einen Pferdekopf modelliert, dessen Figürlichkeit nicht eindeutig und dessen Ausdruck ein einziges Fragezeichen ist — dem Ausdruck des Betrachters nicht unbedingt unähnlich. In Wesson Rockwells Acrylarbeit läßt sich das orangene, von einem Raster überzogene Zentrum unzweideutig als die Metropole identifizieren — ein definiertes Feld, mit dem blanken Weiß seines Hintergrundes einzig verbunden durch eineige vage hingeworfene schwarze Striche.
Michael Ilg hat aus einem aus dem Verkehr geräumten Polsterstoff zwei Objekte der »Seßhaftigkeit« geschaffen — subtile Parodien auf den Willen hier und dort, bei sich zu bleiben. Während Jens Imig an die realen Austauschbeziehungen zwischen Geld, Waren und Menschen erinnert, indem er in eine Tüte für Bäckereiwaren eine Durchreiche montiert, und damit die Figur einer Passage geschaffen hat, ist die Wandskulptur von Jens Imig nur scheinbar stationär: zwei in die Wand montierte Uhrzeiger, die in Echtzeit laufen, gemahnen den Betrachter an seine eigene Gegenwärtigkeit.
Etwa 30 Kilometer westlich von Berlin, immer strikt entlang der B 1, der alten Reichsstraße zwischen Königsberg und Aachen, liegt das havelländische Dörfchen Deetz. Hier befindet sich das Gasthaus »Einsiedler«, das dem Projekt seinen Namen gab. Deetz: Neben Aal-Räuchereien, Obstplantagen, Ziegeleien und dem Havel-Hafen war Kunst bislang hier unbekannt. Während ihre Ausstellung in der Potsdamer Straße läuft, werden die fünf Künstler den mittlerweile verlassenen Deetzer Gasthof »Einsiedler« bearbeiten.
Einsiedler ist die erste Ausstellung, bei der ein Ort im Westen und ein Ort im Osten durch einen Bustransfer miteinander verbunden werden, und das erste Kunstprojekt, das vom Berliner Senat und der brandenburgischen Landesregierung gemeinsam gefördert werden. Keep it country! Bernd Gammlin
Einsiedler — ein Kunsttransfer in der Galerie Inter Art, Potsdamer Straße 93, (Tel.: 2628813) mi.-so. 14-19 Uhr, bis 1.12. Der Bustransfer nach Deetz erfolgt Sa. und So. am 30.11. und 1.12. um 10 und 15 Uhr, Rückfahrt inbegriffen.
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