INTERVIEW
: „Ich werde kein Zensor sein“

■ Joachim Gauck über das Stasi-Akten-Gesetz

taz: Werden die Opfer der Staatssicherheit mit dem neuen Gesetz ihre Akten bis ins letzte Detail einsehen können? Werden sie auch die richtigen Namen aller Inoffizieller Mitarbeiter erfahren, die sie bespitzelten?

Joachim Gauck: Die Bürger werden in den Besitz des ehemaligen Herrschaftswissens gesetzt. Das ist der klare Wille des Gesetzgebers. Ich möchte betonen, daß wir es außerordentlich begrüßen, wenn das Gesetz nun endlich kommt. Das Ausbleiben einer umfassenden Regelung hat das gesamte Klima in den neuen Bundesländern schwer belastet.

Erwartet wird eine regelrechte Flut von Antragstellern. Ist Ihre Behörde vorbereitet?

Schon heute liegt die Zahl der Anträge monatlich zwischen 30.000 und 70.000, und das bei der eingeschränkten gesetzlichen Regelung aus dem Einigungsvertrag. Vorsichtig geschätzt, rechnen wir mit 50.000 weiteren Anträgen im Monat. Wenn wir dem anstehenden Arbeitsaufwand auch nur einigermaßen gerecht werden wollen, brauchen wir für diese Arbeit etwa 3.600 Mitarbeiter.

Wer einen Blick in die eigene Akte riskiert, wird unter Umständen feststellen müssen, daß ihn seine engsten Angehörigen ausspioniert haben. Wird es für diese Fälle irgendeine Form von Beratung oder psychosozialer Betreuung geben?

Wir werden versuchen, den Betroffenen lebenserfahrene und reife Mitarbeiter an die Seite zu geben, wenn sie ihre Akten lesen, Fragen stellen wollen oder vor Ort noch ein klärendes Gespräch suchen. Als Behörde werden wir aber niemals den ganzen, bis ins Therapeutische gehenden Bedarf abdecken können. Hier sind die Kirchen, die Gewerkschaften und engagierte Gruppen gefragt. Bei der Aufarbeitung der Staatssicherheit handelt es sich um einen großen gesellschaftlichen Heilungsprozeß, der entsprechende Strukturen braucht, wenn er funktionieren soll.

Wenn einen Bürger eine schlimme Akteneinsicht erwartet, wird er vor der Akteneinsicht von uns auf diese Tatsache hingewiesen. Es wird ihm quasi noch einmal freigestellt, ob er seine Akte wirklich einsehen will. Wir wollen niemanden von seinem Recht fernhalten, aber jeder sollte sich genau überlegen, ob er mit seiner Akte konfrontiert werden will.

Akteneinsicht ist das eine — werden wir Kopien von unseren Akten mitnehmen können?

Wir werden nicht automatisch für jeden Antragsteller Kopien bereithalten. Wir werden auch nicht automatisch die richtigen Namen aller Inoffiziellen Mitarbeiter recherchieren. Mancher Arbeitsvorgang muß von uns gar nicht geleistet werden, weil sich dem Leser bei der Lektüre mancher Klarname von selbst erschließt.

Das Recht, eine solche Recherche zu veranlassen, gilt aber uneingeschränkt?

Dieses Recht hat jeder. Der einzelne wird allerdings solche Informationen nicht zu sehen bekommen, die überwiegend schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigen. Zum Beispiel: Der Bürger soll über seine MfS-Akte nicht erfahren können, daß sein Ehegatte während des Überprüfungszeitraums Ehebruch begangen hat. Als zweite Ausnahme gilt eine Jugendschutzregelung. Der Antragsteller wird den Namen eines Inoffiziellen Mitarbeiters dann nicht erfahren, wenn dieser zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit noch keine 18 Jahre alt war.

Viele befürchten, daß diese Recherche teuer werden kann und dies bewußt zur Abschreckung eingesetzt wird.

Nein, die Auskunft und die Einsicht in die Akten ist gebührenfrei. Wer seine komplette Akte mitnehmen möchte, wird allerdings die Auslagen für die Kopien erstatten müssen. Der Bürger muß sich klarmachen, daß die von ihm veranlaßten Recherchen sehr aufwendig sind.

Unstrittig ist, daß die Aktenauskunft und -einsicht weit gefaßt wird. Andere Gesetzesvorschriften sind aber heftig umstritten. So ist vorgesehen, daß die Justiz zur Strafverfolgung auch auf die personenbezogenen Daten von Opfer-Akten zugreifen darf. Dem steht eigentlich ein Verwertungsverbot entgegen, da die Unterlagen im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien angelegt wurden.

Wenn man den Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit ausschließlich in den Vordergrund rückt, müßte man konsequenterweise auf die Nutzung der Akten völlig verzichten. Es ist viel Zeit darauf verwendet worden, den Zugriff auf diese Akten auf eine sehr begrenzte Zahl von schweren Straftaten zu beschränken. Es gibt hier in der Tat einen Wertekonflikt, aber ich bin überzeugt, die Mehrheit der Bürger wird diese Regelung akzeptierten.

Akten über Opfer können aber auch als Zeugnisse in vergleichsweise unbedeutenden Verfahren gegen ehemalige Stasi-Mitarbeiter zugezogen und damit dem früheren Stasi-Mann wieder zugänglich werden.

Wir haben uns deutlich dafür ausgesprochen, den Katalog auf sehr wenige Straftaten einzuschränken. Besonderen Wert haben wir auch darauf gelegt, daß es ein Verwertungsverbot zum Nachteil der Betroffenen auch bei der Nutzung ihrer Unterlagen durch die Justizbehörden gibt. Daß dies in der endgültigen Fassung des Entwurfes nun ein Stück weit aufgehoben wurde, ist bedauerlich.

Es wird zwar festgelegt, daß die Verwertungsverbote nach der Strafprozeßordnung angewendet werden, aber wenn man die Praxis bei Gerichtsverfahren kennt, läßt sich nicht ausschließen, daß Informationen über Opfer, die gar nicht Gegenstand eines Strafverfahrens sind, in die Hände der jeweiligen Prozeßparteien gelangen.

Das frühere Stasi-Opfer kann sich dagegen aber nicht wehren.

Ob das zutrifft, muß sich erst im praktischen Vollzug der Regelung erweisen. Wir vertreten die Auffassung, daß unsere Behörde auch die Frage der Erforderlichkeit von solchen Akten zu prüfen hat. Wenn wir meinen, daß Grundprinzipien verletzt sind oder bestimmte Informationen mit einem Strafverfahren gar nichts zu tun haben, dann werden die Unterlagen nicht freigegeben. In der Praxis wird dies noch einige Probleme aufwerfen, weil damit das Selbstverständnis der Justiz berührt wird. Sie geht davon aus, daß sie ausschließlich selbst bestimmt, welche Informationen für ein Strafverfahren zur Verfügung stehen müssen.

Massive Kritik gibt es auch dort, wo die ersatzlose Herausgabepflicht von Stasi-Unterlagen an Ihre Behörde festgeschrieben und eine Weigerung unter Strafe gestellt wird. Journalisten und Verleger sprechen von einem Angriff auf die Pressefreiheit, die Bündnis-90-Politikerin Ingrid Köppe spricht von einem Ende der Stasi-Aufarbeitung.

Zum „Ende der Aufarbeitung“: Exakt das Gegenteil wird erreicht. Man muß genau hinsehen. Das Gesetz markiert eine Trendwende. Die Nutzung der Stasi-Akten war bisher einer restriktiven Regelung unterworfen, jetzt wird eine Nutzung eröffnet, wie sie auch von der Volkskammer der DDR gefordert wurde. Die Essentials, die dort im August letzten Jahres verabschiedet wurden, bleiben in dem Gesetzentwurf gewahrt. Betroffene können umfangreich in Akten einsehen, Überprüfungsvorgänge können im gewünschten Umfang durchgeführt werden, die politische und historische Aufarbeitung wird stattfinden können.

Der Vorwurf heißt aber: Wer künftig Berichte veröffentlicht, wie die zur Inoffiziellen Stasi-Tätigkeit des früheren Ministerpräsidenten de Maizière oder Recherchen über die geplante Internierung Oppositioneller, steht mit einem Bein schon im Gefängnis.

Das ist völliger Unsinn. Richtig ist, daß die Verwendung von zusammengekauftem Material, das ja zu keiner Zeit legal in die Hände der Anbieter geraten ist, künftig erschwert und unter Strafe gestellt wird. Richtig ist aber auch, daß ein Journalist, der an einem Sachthema recherchiert, künftig mit den Materialien der Behörde viel umfangreicher und damit seriöser arbeiten kann. Mit der Herausgabebestimmung wird keiner Eigentumsideologie des Bundesbeauftragten Rechnung getragen. Es geht vielmehr darum, den Bundesbeauftragten in den vollständigen Besitz der Unterlagen zu bringen, um den Bürgern für ihre Einsichts- und Rehabilitierungsansprüche das tatsächlich vorhandene Material zur Verfügung stellen zu können. Zum zweiten: Gerade die Regelung für die Presse besagt, daß sie personengebundene Unterlagen zu Personen der Zeitgeschichte, zu Inhabern politischer Funktionen oder zu Amtsträgern in Ausübung ihrer Funktionen verwenden darf. Der Fall de Maizière fällt selbstverständlich darunter. Man darf nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange hier auf die Strafvorschriften des Gesetzes starren. Die Unterlagen des Ministeriums sollen auch von den Medien weitestgehend genutzt werden können.

Nach dem Gesetzentwurf entscheidet aber die Gauck-Behörde, wieweit der jeweilige Medienvertreter die von der Behörde vorgelegten Informationen verwenden darf.

Ich habe mit Mißvergnügen festgestellt, daß diese Regelung als Zensurbestimmung wahrgenommen wird. Ich werde mich aber weigern, eine Rolle, die als staatlich verordneter Zensor aufgefaßt werden könnte, auszuüben. Unsere Behörde wird im Gegenteil eine eigene Abteilung einrichten, die zur Aufgabe hat, die Öffentlichkeit zu unterrichten. Wenn es gelingen könnte, diesen Verdacht zu zerstreuen, würde ich mich freuen.

Die Strafvorschrift im Gesetzentwurf soll, und das ist die Intention, eine ausschließlich generalpräventive Wirkung haben. Sie soll dazu führen, daß diejenigen, die Material haben — seien es ehemalige MfS- Angehörige oder sonstige Mitarbeiter —, diese herausgeben müssen. Darüber hinaus wollen wir erreichen, daß die Stasi-Unterlagen für diejenigen, die das nicht tun wollen, wertlos werden, weil sie damit keinen Handel treiben können.

Jede natürliche und juristische Person wird bei Strafandrohung gezwungen, Stasi-Material herauszurücken — nur die Nachrichtendienste der Bundesrepublik nicht. Sie dürfen sich im Gegenteil bedienen, als wäre Ihre Behörde ein Stasi-Akten-Supermarkt.

Die Herausgabepflicht von Stasi- Unterlagen gilt für sämtliche Behörden und damit auch für die Nachrichtendienste. Ich gehe davon aus, daß der Bundesinnenminister nur in ganz extremen Ausnahmefällen die ersatzlose Herausgabe anfordern kann. Diese Anordnung bedarf darüber hinaus der Zustimmung der Parlamentarischen Kontrollkommission. Darin sehe ich eine außerordentlich hohe Hürde gegen eine weitgehende Aktenherausgabe. Ich hätte es allerdings lieber gesehen, wenn der Bundesbeauftragte in diesen Fällen eine Kopie der Akten behalten dürfte. Wir haben immer darauf hingewiesen, daß derartige Unterlagen in unserer Behörde besonders gesichert und deren Nutzung an besondere Bedingungen geknüpft werden könnten. Dem Bundesbeauftragten wird es allerdings nicht verwehrt sein, die Tatsache einer Herausgabe in den Unterlagen zu vermerken, so daß zumindest der wissenschaftliche Forscher erfahren kann, welche konkreten Unterlagen herausgegeben wurden. Interview: Wolfgang Gast