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General Dschojar Dudajew

■ Ein tschetschenischer Nationalist fordert die russische Föderation heraus

Berlin(taz) — Der Stern Dschojar Dudajews stieg erst im Januar dieses Jahres auf. Er nahm am „Nationalkongreß“ der Tschetschenen teil, der einen radikalen „Loß- von-Rußland“-Kurs steuert und wurde sofort zu dessen charismatischem Führer. Wenige Monate zuvor war der Luftwaffengeneral auf eigenen Wunsch in die vorzeitige Pension geschickt worden.

Dudajew hatte in den baltischen Staaten Dienst getan, unter anderem als Flughafen- und Standortkommandant im estnischen Tartu. Bei Manifestationen für die estnische Unabhängigkeit in der alten Universitätsstadt soll er lieber weggeschaut als eingegriffen haben. Sein früher Abschied war ebenso durch den Wunsch, sich für eine unabhängige Tschjetschenen-Republik zu engagieren, bestimmt, wie durch seine Weigerung, an der militärischen Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegungen im Baltikum teilzunehmen.

Dschojar Dudajew wurde in dem für die Tschetschenen verhängnisvollen Jahr 1944 geboren, als Stalin anordnete, das gesamte Volk wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht nach Zentralasien und nach Sibirien zu deportieren. Ein Fünftel des Volks der Tschetschenen und der eng mit ihnen verwandten Inguschen, die ihr Schicksal teilten, bezahlte diese Strafaktion mit dem Leben. Für Dudajew blieb dieses Erlebnis auch nach der Rückkehr aus der Verbannung traumatisch. Er wuchs in der Mythologie eines Volkes auf, die der russische Dichter des 19. Jahrhunderts Michail Lermontow in die Sentenz fasste: „Der Gott der Tschetschenen ist die Freiheit und ihr Gesetz ist der Krieg.“ In einem kürzlichen Interview begründete Dudajew seinen Entschluß, Soldat zu werden, mit dem Wunsch „hier eines Tages meine politischen Ideen verwirklichen zu können“.

In den Tagen des August-Putschs beging die Führung der autonomen Republik den Fehler, sich für das Notstandsregime zu erklären. Zweiwöchige Massendemonstrationen auf dem Hauptplatz von Grosnyi forderten daraufhin den Rücktritt der kompromittierten Equipe. Dudajew, der von der ersten Minute des Putschs an die legale Regierung und Jelzin unterstützt hatte, sah jetzt die Möglichkeit zum Handeln. Die Nationalgarde, der bewaffnete Arm des Nationalkongresses, besetzte am 6. September unter Dudajews Führung Regierungssitz und Rundfunkstation. Präsident Sargajew wurde abgesetzt; Vitali Koutschenko, der Vorsitzende des Sowjets der Hauptstadt, kam bei einem Fenstersturz ums Leben. Wenig später löste sich das Parlament der Republik auf.

Die russische Föderation schickte den Tschetschenen Chamboulatow, Präsident des Parlaments, mit Glückwünschen zu Dudajew und regte bis zu Neuwahlen die Bildung einer provisorischen Legislative an. Aber Dudajew dachte nicht daran, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Er warf sich in Zivil, „um nicht wie ein Diktator auszusehen“, erklärte, es gäbe keine Lösnung außer der Trennung von Rußland und setzte Präsidentschaftswahlen für den 28. Oktober an, die er haushoch gewann.

Auf die zunehmend schärferen Töne aus Moskau reagierte der neue Präsident mit dem Aufruf zur Generalmobilmachung. Das war einer Reihe von Intelektuellen und Politikern, vor allem aus den Reihen der Inguschen und der russischen Kolonie in der Hauptstadt zu viel. Die Inguschen sprangen vom Unabhängigkeitszug ab. Eine weitere Differenzierung des tschetschenischen Lagers scheiterte allerdings an dem russischen Vizepräsidenten Ruskoi, der verächtlich von den „tschetschenischen Banden“ sprach und Dudajew mit Ultimaten und mit der Entsendung von Truppen konfrontierte.

Aber wie dieses Säbelrasseln wird auch die Proklamation des Notstands am letzten Freitag nur einen Effekt haben: Die Tschetschenen werden sich um ihren „General“ zusammenschließen. Der hat bereits an die in Moskau lebenden Tschetschenen appelliert, die Metropole in den Zustand der „Verdunkelung“ zu zwingen. Christian Semler

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